Glenraven
erkennen konnte. »Glenraven«, sagte sie und deutete auf den Schriftzug.
Er starrte auf das Buch. »Kann ich das mal sehen?«
Jay spürte einen innerlichen Stich. Es widerstrebte ihr zutiefst, das Buch aus der Hand zu geben. Trotzdem reichte sie es ihm.
Der junge Mann wog den Reiseführer zuerst in der linken, dann in der rechten Hand - ohne ihn zu öffnen oder durchzublättern. Er legte den Kopf zur Seite und untersuchte das Buch, als hätte er noch nie in seinem Leben einen Reiseführer gesehen. Schließlich nickte er und gab Jayjay das Buch zurück. »Haben Sie Ihre Reiseunterlagen?«
»Meine und ihre.« Jay zog zwei archaische, quadratische und von Hand beschriebene Pergamente aus ihrer Brieftasche. Sie war sehr erstaunt gewesen, als sie die Dokumente bereits zwei Tage nach ihrer Anfrage in der Post gefunden hatte. Sie konnte kein einziges Wort lesen. Selbst die Schrift war ihr unbekannt. Die Dokumente sahen so… so inoffiziell aus. Jay hoffte, ihr Aussehen würde Lestovru weniger erschrecken als sie. Sie reichte ihm die Papiere.
Lestovru schnalzte mit der Zunge, als er sie betrachtete. Dann zuckte er mit den Schultern. »Also Sie sind diejenigen. Ich hätte nicht gedacht… « Plötzlich änderte sich sein Benehmen. Er richtete sich auf, blickte Jay in die Augen und lächelte wieder mit seinem fürchterlichen Gebiß. »Wie auch immer… Sie sind nicht das, was ich mir vorgestellt habe.« Jayjay fragte sich, ob er sich von allen seinen Kunden eine bestimmte Vorstellung machte, bevor er sie traf. Das war eine eigenartige Bemerkung. Lestovru sprach weiter. »Mein Job ist es, Sie sicher dorthin zu bringen, und das werde ich tun. Schließlich geht es mich nichts an, was Sie dort wollen.« Nachdem er seinen Kommentar zum besten gegeben hatte, rieb er sich die Hände und erklärte: »Zunächst einmal müssen wir Geld tauschen. Ihr Geld ist nichts wert in… Glenraven… «, seine Stimme sank wieder zu einem Flüstern herab, als er den Namen aussprach, »… und innerhalb des Landes gibt es nirgendwo eine Möglichkeit, Geld zu wechseln.«
Jayjay war darauf vorbereitet. Fodor’s hatte erwähnt, daß es Schwierigkeiten mit der Währung geben könnte, und davor gewarnt, daß das CAI-Büro die einzige Gelegenheit war, an Geld in Landeswährung zu kommen - und zwar vor der Einreise nach Glenraven. In Glenraven selbst wurden weder Traveller-Schecks noch Visa, American Express oder andere Kreditkarten anerkannt. Es gab auch keine versicherungstechnische Möglichkeit, um Reisenden, die in finanzielle Not geraten waren, aus der Klemme zu helfen, indem Geld von daheim überwiesen wurde. »Die Münzen des Landes und Tauschhandel« waren - so sagte der Reiseführer - die einzigen Methoden des Zahlungsverkehrs.
Jay gab Lestovru ihre Traveller-Schecks, und er tauschte sie in die wertvollen, metallenen Dachrras von Glenraven. Als er den Stapel über den Tresen schob, sagte er: »Das ist eine ziemliche Menge Geld. Haben Sie etwas, worin Sie die Münzen aufbewahren können?«
Ihr praktischer Reiseführer hatte Jay vor dem hohen Gewicht des Geldes gewarnt. Sie nickte. »Einen Geldgürtel.«
»Benutzen Sie ihn.« Er starrte ihr lange genug in die Augen, daß sie sich unbehaglich zu fühlen begann. »Lassen Sie niemanden wissen, wieviel Geld Sie mit sich herumtragen. Eine solche Summe könnte sogar Leute verführen, die Sie sonst freundlich behandelt hätten.«
Er tauschte auch Sophies Geld, allerdings ohne etwas zu sagen. Statt dessen blickte er abschätzend von einer Frau zur anderen. »Es geht los«, sagte er, nachdem die beiden das Geld in ihren Gürteln verstaut und Sweatshirts darüber gezogen hatten. »Wir werden Ihre Fahrräder hinten an meinem Wagen festmachen und bis Bardonecchia fahren. Danach können wir nicht mehr mit dem Auto weiter.«
»Das wußten wir. Wir haben auch schon die Radtour bis hierher genossen«, sagte Jay, »und wir freuen uns schon auf den Trip nach Glenraven.«
Lestovru runzelte die Stirn. »Vielleicht tun Sie das wirklich. Aber wenn Sie erst einmal eine Zeitlang an einem Ort ohne jeglichen Komfort gewesen sind, dann werden Sie das alles hier vermissen.« Seine weitschweifende Geste umfaßte das ältliche, kleine Büro mit den nackten Glühbirnen an der Decke und dem abgelaufenen, durchhängenden Fußboden, als handelte es sich um den Inbegriff von Luxus.
Jay seufzte. Wahrscheinlich hielt Lestovru sie für den Prototyp einer dekadenten Amerikanerin - für irgend jemanden, der nicht wußte, was
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