Glenraven
was sie besaßen, Aidris zu verdanken hatten.
Sie hatten Aidris erreicht. Der kalte Wind preßte ihr den Rock gegen die Beine, ließ ihr Haar flattern und blies leuchtende, weiße Funken an ihr vorbei.
Urplötzlich erstarb der Wind. Aidris war nun vollkommen von strahlenden Funken eingehüllt. Aidris beobachtete das Schauspiel. Sie versuchten, Aidris mit ihrer Schönheit zu verführen; aber Aidris war keines ihrer schwächlichen Opfer. Sie starrte sie einfach nur an. Daß irgend jemand (oder irgend etwas) nicht sofort vor Ehrfurcht erstarrte, schüchterte sie ein.
»Schutz/Schutzherrin/Herrin«, flüsterten sie, knurrten, heulten - der Mißklang ihrer Stimmen, tief, hoch, schrill, schwer wie Erde - alles zugleich. »Wir werden dich nähren.«
»Ja, das werdet ihr«, sagte sie. »Wenn ihr fertig seid, dann erlaube ich euch, wieder jagen zu gehen.«
»Danke«, flüsterten sie in hundert mißtönenden Stimmen. »Danke.« Manchmal fragte Aidris sich, ob sie nicht durch diese Danksagungen verspottet wurde. Vielleicht taten sie das, aber Aidris wußte nicht, ob sie überhaupt zu Spott fähig waren.
Zunächst fühlte sie so etwas Ähnliches wie den leichten Druck kühler Luft auf ihrer Haut. Als noch mehr von ihnen sie berührten, sank die Temperatur weiter. Es wurde eiskalt, und der Druck verstärkte sich. Die Kälte brach mit großer Wucht über sie herein und schien sie auf die Knie drücken, sie umwerfen, sie brechen zu wollen. Aber Aidris wankte nicht; sie blieb standhaft. Sie drückten weiter. Drückten. Aidris kämpfte dagegen an, während sich Schweiß auf ihrer Stirn bildete und langsam in kleinen Bächen über ihre Wangen rann. Ihre Beine schmerzten, ihre Knie zitterten, und ihre Wirbelsäule fühlte sich an, als ob sie jeden Moment brechen könnte. Dann schoß Feuer durch ihre Venen; durch ihr Herz, ihre Lungen, ihre Knochen und ihr Gehirn. Feuer brannte in ihren Augen, in ihren Zähnen, so daß sie glaubte, sie würden ihr jeden Moment aus dem Schädel gerissen. Es brannte in ihrem Fleisch. Aidris stand in Feuer und Eis, stand fest. Aidris ließ sich nicht erschüttern. Sie konnten Aidris nicht brechen, sie nicht zerstören. Aidris wurde selbst zu Eis und Feuer. Triumphierend richtete sie sich auf, warf den Kopf zurück und heulte.
KAPITEL VIER
Jay konnte kaum glauben, wie rasch die letzten beiden Wochen vergangen waren oder wie einfach sich alles entwickelt hatte. Steven war überglücklich, sie loszuwerden. In der Hoffnung, sie durch eine kleine Bestechung auf seine Denkweise einzuschwören, hatte er ihr sogar angeboten, die Reisekosten zu übernehmen. Sie hatte abgelehnt. Die Visa für Glenraven waren bereits zwei Tage, nachdem sie an die im Reiseführer angegebene Adresse geschrieben hatte, angekommen. Offensichtlich besaß das kleine Land die effektivste Verwaltung der Welt. Da Jay fürchtete, ihre Freundin könnte ihre Meinung ändern, traf sie alle Vorbereitungen alleine. Sophie brauchte einfach irgendwas, um wieder einen Weg zurück ins Leben zu finden.
Und nun waren sie also hier. Es war zwar kaum vorstellbar, aber sie und Sophie entfernten sich mit ihren Rädern gerade von Turin, wo sie noch einen Tag verbracht hatten, bevor es weiter in Richtung Glenraven ging.
Jay gelangte rasch zu der Erkenntnis, daß eine Radtour durch Nordwest-Italien ebensogut das eigentliche Ziel ihrer Reise hätte sein können, statt nur eine Durchgangsstation. Sie wußte, daß sie nicht die erste Reisende war, der es angesichts des Panoramas den Atem verschlug, auch würde sie nicht die letzte sein. Der Westen Italiens war etwas Neues, etwas wunderbar… Frisches für sie. Besser noch, der Verkehr hatte nachgelassen, seit sie Turin den Rücken gekehrt hatten. Endlich konnte sie sich mit Sophie unterhalten.
»Erzähl. Wie geht’s Mitch?« fragte sie.
Sophie trat in die Pedale, um mit Jay Schritt zu halten. Sie radelten nebeneinander auf der S25 in Richtung Susa und Bardonecchia, mitten hinein in die Berge entlang des Aosta-Tales. Jayjay hielt die italienischen Autofahrer für wesentlich besser als die amerikanischen, wenn es darum ging, auf Radfahrer Rücksicht zu nehmen. Allerdings glaubten die Italiener wohl, daß eine Geschwindigkeitsbegrenzung sich auf eine Minimalgrenze bezog, die man nicht unterschreiten dürfe.
»Mitch? Dem geht’s gut«, sagte Sophie. Jay bemerkte einen Hauch von Wut in der Stimme ihrer Freundin. »Er ist inzwischen Senior-Partner in seiner Kanzlei geworden. Eigentlich wollte er, daß
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