Glenraven
schwang Zweifel.
»Wir werden erwartet.« Jay zog ein Stück Papier aus ihrer Jeans und studierte den Namen darauf. »Signi Tavsti Lestovru.« Sie klappte den Fahrradständer aus. Dieser Fahrradständer. Als sie ihn betrachtete, lachte sie leise vor sich hin. Sie hatte darauf bestanden, daß er eingebaut wurde, trotz des entsetzten Gesichts, das der Fahrradhändler gemacht hatte. Hightech-Mountainbikes waren nicht für den Einbau eines Fahrradständers vorgesehen. Jayjay war das egal. Sie hatte nicht die Absicht, ihr 1200-Dollar-Fahrrad an irgendeine Wand zu lehnen oder einfach auf den Boden zu werfen, wenn sie es nicht gerade in Gebrauch hatte. Zögernd war der Verkäufer ihrer Aufforderung nachgekommen und hatte beim Einbauen so getan, als müßte er der Mona Lisa einen Schnurrbart malen.
Jayjay wartete auf Sophie, die nicht so energisch gewesen war und deshalb jetzt nach einem sicheren Ort Ausschau hielt, um ihr Rad abzulegen.
Schließlich entschied sie sich für das hohe Gras neben der Hütte. Das würde das Gerät nicht allzusehr beschädigen. Vorsichtig legte sie es nieder. »Es sieht nicht so aus, als sei jemand hier.«
Sophie hatte recht. Die Fenster des CAI-Büros waren mit Brettern vernagelt, und das Dach hing in der Mitte gefährlich durch. »Ich habe heute morgen noch mal angerufen, kurz bevor wir das Hotel verließen, um sicherzugehen, daß unser Führer auch hier auf uns wartet. Allerdings hab’ ich nicht mit ihm persönlich gesprochen, sondern mit einer Angestellten… glaube ich jedenfalls.«
Sophie ging ein Stück auf die Hütte zu. »Dieser Ort ist irgendwie unheimlich.«
Jayjay stimmte ihr zu, aber sie hatte keineswegs die Absieht, sich dadurch von Glenraven fernhalten zu lassen. Sie öffnete die Tür und trat ein.
Das Innere besaß keinerlei Ähnlichkeit mit dem Äußeren. Es war hell und freundlich. Obwohl der Raum mit seinen hölzernen Prospektständern und der niedrigen Bohlendecke recht antiquiert wirkte, beinhaltete er eine große Auswahl an Bergsteigerausrüstungen, sowohl moderner als auch etwas älterer. Ein sonnengegerbter junger Mann, hager wie ein Marathonläufer, betrat den Ausstellungsraum, als die Türglocke klingelte. Er lächelte mit den fürchterlichsten Zähnen, die Jayjay jemals bei einem jungen Menschen gesehen hatte. Als der Bursche von einer Frau zur anderen blickte, wich sein Lächeln einem Ausdruck höflicher Verwirrung.
Auf französisch fragte er: »Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein?«
Jayjay lächelte ihn an. »Aber natürlich«, erklärte sie, ebenfalls auf französisch. »Wir waren hier mit unserem Führer verabredet, einem gewissen Signi Tavsti Lestovru… «
»Ich bin Lestovru«, sagte der Bursche und blickte - wenn das überhaupt möglich war - noch verwirrter drein. »Aber Sie… Sie suchen vielleicht einen Führer nach Saint-Vincent oder Breuil-Cervinia?«
Jayjay seufzte. Das war nicht der Mann, mit dem sie gesprochen hatte. Sie hatte mit einer Frau mit amerikanisch klingendem Akzent gesprochen, die sehr erfreut gewesen war, Jayjay helfen zu können. Sie hatten darüber gesprochen, daß es nur einen einzigen Führer gab, der die Frauen nach Glenraven bringen könnte. Tatsächlich hatte Jay sich sogar darüber gewundert, daß es überhaupt jemanden gab, der diese Aufgabe erfüllen konnte. Schließlich waren die Grenzen soeben erst geöffnet worden. Wenn die Frau, mit der Jayjay geredet hatte, versicherte, er werde hier sein, um sie zu treffen, dann müßte er eigentlich auch wissen, wohin es ging.
Sophie tippte ihrer Freundin auf die Schulter. Jay wandte sich fragend zu ihr um. »Was hat er gesagt?« flüsterte Sophie.
Jay übersetzte es. Sophie hatte nicht Jayjays Kindheitserfahrungen als Tochter eines Anthropologenpaares. Auch den Spanisch-Unterricht in der Schule hatte sie nicht sonderlich ernstgenommen. Sie sprach nur Englisch. Jayjay andererseits beherrschte das Französische recht gut. Außerdem sprach sie noch ein wenig Spanisch, Inuit und genug Japanisch, um sich in Schwierigkeiten zu bringen, aber nicht wieder heraus.
Jay beugte sich nach vorne. »Hat die Frau, die unsere Reise arrangiert hat, Ihnen nicht gesagt, daß wir nach Glenraven wollen?«
Lestovru wurde blaß und blickte über die Schulter, als fürchtete er, man könne sie belauschen. »Wohin?« flüsterte er.
Jay runzelte die Stirn. Sie zog den Fodor’s Reiseführer aus der Innentasche ihrer Jacke und hielt ihn dem Mann unter die Nase, so daß er den Titel deutlich
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