Glenraven
kühle Wind streichelte über ihre Haut. Es kribbelte am ganzen Körper, und Jayjays Herz begann zu rasen. Komm, flüsterte Glenraven ihr zu. Ihr ganzes Leben hatte sie darauf gewartet, in einem Märchen aufzuwachen, und hier war es… genau vor ihr. Es zog sie noch stärker an als daheim in Peters, eine halbe Welt weit entfernt. Hier, versprach eine Stimme, hier wirst du finden, was du suchst.
Was ist das? fragte sie sich. Auf was habe ich gewartet? Sie kannte die Antwort nur zum Teil.
Glenraven.
KAPITEL SECHS
Ich bin da, dachte Sophie. Sie betrachtete das saftig grüne Tal, das übersät war mit Burgen. Sie rieb ihre Hände an den Knien und blickte zu Jay, die regelrecht in Verzückung versunken schien. Der Ort rief nach Sophie, aber seine Versprechen machten ihr Angst. Hier wirst du Ruhe und Frieden finden, versprach er… . Ruhe und Frieden.
Sophie wußte, was das bedeutete. Sie würde Glenraven niemals verlassen. Sie würde dort unten sterben. Glenraven würde sie auf die Straße zurück zu Karen führen oder ihr zumindest den Frieden des Nichts geben.
Ruhe und Frieden.
Der Wind blies durch Sophies Haare. Seine Stimme flüsterte in den Bäumen, die weiter unten wuchsen, und auf den Berggipfeln hoch oben. Auch der Wind sang Glenravens Lied. Ruhe und Frieden.
Vielleicht hätte ich mir mehr Mühe geben sollen, mich richtig zu verabschieden. Vielleicht hätte ich auch die letzten Kleinigkeiten noch erledigen sollen. Meine Eltern besuchen. Mein Testament prüfen.
Ruhe und Frieden.
Sie blickte über den Rand des Felsbrockens… genau nach unten. Es gibt nicht viel, woran sich das Leben klammern kann. Nicht viel. In einem Augenblick ist es noch da, und dann ist es plötzlich weg. Niemand kann es auf ewig festhalten.
Sie sah zu Lestovru, der ungeduldig und mit finsterer Miene neben seinem Fahrrad stand. Die Schönheit der Aussicht ließ ihn vollkommen unberührt. Sophie starrte immer noch. Sie war wie verzaubert.
Will ich eigentlich Ruhe und Frieden? Will ich das wirklich?
Sie dachte: Ja, das will ich. Das will ich wirklich. Ich möchte schlafen können, ohne Karen in meinen Träumen zu sehen, wie sie leblos auf dem feuchten Reitweg liegt. Ich möchte aufwachen und frei atmen können, ohne von Kummer und Leid zu Boden gedrückt zu werden. Ich will so vieles.
Aber Ruhe und Frieden wären schon genug.
Lestovru war es offensichtlich leid, auf die beiden Frauen zu warten. Er sagte: »Wenn wir uns nicht bald auf den Weg machen, dann werden die Tore geschlossen sein.«
Seine Stimme riß Sophie aus ihren düsteren Träumen. Jay kletterte hinunter, und Sophie folgte ihr. Sie würde weiter in Richtung Glenraven fahren, obwohl ihr eine innere Stimme sagte, daß das ihre letzte Möglichkeit zur Umkehr war. Sie würde nach Glenraven gehen, weil Glenraven ihr etwas versprach, das sie nirgendwo sonst finden konnte.
Als sie die Hälfte der Strecke zum Tor bewältigt hatten, fiel Sophie zum ersten Mal auf, daß Lestovru bewaffnet war. Er trug eine Armbrust über der Schulter und Dolche an beiden Seiten.
Wann hatte er die Waffen hervorgezaubert? Während der kurzen Pause am Tunnelausgang? Sie hatte nicht auf ihn geachtet, sondern sich ganz auf das Panorama konzentriert.
Alle drei ließen sich rollen. Niemand trat in die Pedale. Der Weg nach unten war nicht annähernd so steil wie der Weg hinauf. Von Zeit zu Zeit betätigte Sophie die Bremsen oder rückte ihren Helm zurecht. Während der Abfahrt war es genauso unmöglich, sich zu unterhalten, wie während des Aufstiegs. Es gab zu viele Schlaglöcher in der alten Straße, und tiefhängende Äste reichten weit in den Weg hinein.
Da Sophie nicht reden konnte, machte sie sich Sorgen. Sie sorgte sich um Jay und um das, was ihre Freundin zu dieser Reise veranlaßt hatte. Sie sorgte sich wegen Lestovru und grübelte über die Gründe, warum sie ihm nicht vertrauen durfte. Aber am meisten machte sie sich Gedanken um Glenraven. Sie hatte den Reiseführer gelesen und war losgezogen, das kleine Land zu finden, und sie war - trotz besseren Wissens - davon überzeugt, daß ein derartiger Ort existierte… schließlich hatten in Westeuropa so kleine Länder wie Andorra, Monaco und Liechtenstein erfolgreich überlebt, und das schon seit geraumer Zeit. Niemand hätte ein neues Land in Europa einschmuggeln können, ohne daß Sophie etwas bemerkt hätte - und Glenraven war nie hier gewesen. Warum also existierte es trotzdem?
Sie grübelte nach über ihre Bereitschaft, an einen Ort
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