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Glenraven

Glenraven

Titel: Glenraven Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marion Zimmer Bradley
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den Eingängen oder lehnten an den steinernen Balustraden der Balkone. Sie riefen den Mädchen unten auf der Straße nach oder brüllten sich gegenseitig an. Ihre Stimmen klangen hart, doch die Worte blieben Jay unverständlich.
    Die beiden Frauen ließen die Kasernen hinter sich und kamen an einer Reihe von Geschäften mit bunten, geschnitzten Schildern vorüber. Es gab keine Bürgersteige. Reiter und Fußgänger teilten sich dieselbe Durchfahrt. Zearn war eine hübsche und malerische Stadt… ganz im Gegensatz zu ihrem Geruch. Der Gestank war ein untrüglicher Beweis dafür, daß die sanitären Anlagen ebenfalls auf mittelalterlichem Niveau verharrten. In kleinen Gassen, die gelegentlich die ansonsten geschlossene Häuserwand durchbrachen, huschten Ratten durch die Dunkelheit.
    Sophie hatte das kleine, verelendete Dorf Inzo für einen Ausnahmefall gehalten. Sie hatte Inzo für ein kurioses Relikt in einer Welt gehalten, die ansonsten westlichen Vorstellungen von Hygiene und Zivilisation entsprach. Aber der Geruch dieser Stadt, die der Reiseführer in den höchsten Tönen gelobt hatte, berührte etwas Uraltes, Archaisches. Glenraven erschien Sophie längst nicht mehr als das Bilderbuchmodell eines mittelalterlichen Landes. Der Gestank aus den Gassen, von rauchendem Holz in den Kochstellen und von Tierkot versetzte sie schlagartig in eine Welt, in der die Nacht mit dem Sonnenuntergang begann, in der Nahrung nur dann längere Zeit genießbar blieb, wenn man sie räucherte, trocknete oder pökelte, und wo Kinder starben, weil sie niemals gegen Masern, Mumps oder Diphtherie geimpft worden waren. Einige der Einwohner besaßen tiefe Pockennarben… wahrscheinlich Schwarze Pocken, dachte Sophie und erschauerte. Sie streifte ihren Ärmel hoch und betastete die Narbe, die die Impfung hinterlassen hatte. Dieser Ort war wirklich ein Überbleibsel des alten Europa - festgehalten an seinem Platz wie ein in Formaldehyd getauchter und aufgespießter Schmetterling in einem Naturkundemuseum.
    Schließlich kamen sie zwischen engen Häuserschluchten hervor auf einen weiten Platz, auf dem ein großer Markt seine ganze Betriebsamkeit entfaltete. Jayjay zügelte ihr Tier und starrte mit offenem Mund auf das Irrenhaus, das sich vor ihren Augen entfaltete. Eine Herde fetter, dunkelbrauner Gänse stürmte quakend unter den Hufen ihres Pferdes hindurch. Einen Augenblick später erschien eine Art Collie am Rande einer Gasse, der sofort die Verfolgung des Geflügels aufnahm. Weder Jays noch Sophies Pferd ließ sich davon beeindrucken… ganz im Gegensatz zu Jayjay. Männer und Frauen schrien sich gegenseitig und auch die beiden Neuankömmlinge an, während sie mit bunten Kleidern und Gemüse wedelten oder lautstark gestikulierend auf ihre Hühner, Ferkel und Brote deuteten. Ohne Zweifel priesen sie die Qualität ihrer Waren. Ein Paar Straßenmusikanten - ein Flötenspieler und ein Trommler - und eine dünne, blonde Tänzerin stellten ihre Fertigkeiten auf der gegenüberliegenden Seite des Marktplatzes zur Schau. Kleine Mädchen mit ernsten Gesichtern, in handbestickte Kittel gekleidet, trugen Körbe mit Eiern auf dem Kopf, während die Mütter - mit Säuglingen an den Hüften oder mit unter langen Röcken versteckten Kleinkindern - größere Körbe mit Früchten, Brot, Bohnen und Getreide herbeischleppten. Jungen und Männer trieben Ziegen und Schafe zum Markt oder trugen Reisigbündel. Alte Männer und Frauen lungerten an den Ständen herum oder saßen auf Bänken entlang der Stadtmauer und beobachteten das muntere Treiben. Ein Mann blies Glas zu Krügen und Trinkgläsern. Er drehte an seinem langen Metallrohr, während Frauen geduldig darauf warteten, ihre Bestellung aufzugeben. Sein Lehrling, ein Knabe von vielleicht sechs oder sieben Jahren, verpackte die abgekühlte Ware und zählte das Geld. Kesselflicker hämmerten, Lederwarenhändler schnitten ihre Materialien, und Schneider nähten.
    Die Marktstände drängten sich dicht an dicht, wohin man auch sah. Die Wege in den Zwischenräumen machten den Durchgang für einen Reiter unmöglich - oder für einen Klaustrophobiker, dachte Jay. Der Geruch von Kochfeuern, geröstetem Fleisch, Gebäck, lebenden Tieren und schwitzenden Menschen; der Lärm und die Kakophonie der überall spielenden Musiker; der Anblick der Befestigungen, antiken Häuser und Geschäfte und die Pracht der Landestracht, die unabhängig von den Einflüssen des zwanzigsten Jahrhunderts geblieben war; das Gefühl, von einer

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