Glenraven
pulsierenden Masse Tausender Menschen umgeben zu sein… Jay fand diese Eindrücke überwältigend. Das Gefühl, in eine andere Welt einzutauchen, ließ sie erschauern und nach Atem ringen.
Plötzlich erschienen zwei Reiter am Stadttor. Sie ritten auf haselnußbraunen Pferden mit fein geschwungenen Hälsen und feurigen Augen. Die Männer verlangsamten ihre Tiere auf Schrittempo, als sie die Straße entlang ritten, ohne die Leute, die sie umgaben, auch nur eines Blickes zu würdigen. Das war auch nicht nötig. Die Menge teilte sich vor ihnen wie die Wasser des Roten Meeres vor Moses in dem alten Metro-Goldwyn-Mayer-Schinken. Die Menschen verstummten, nahmen ihre Hüte ab und verneigten sich. Niemand versuchte, den beiden seine Waren aufzudrängen. Die Tänzerin hielt inne, und die Musikanten hörten auf zu spielen. Der Lärm aus den weiter entfernt liegenden Teilen des Marktes machte die plötzliche Stille noch surrealer.
Die Reaktion der Bevölkerung und das Verhalten der beiden Männer legten die Vermutung nahe, daß es sich bei ihnen um hochgestellte Persönlichkeiten handelte.
Die Reiter schienen die Menschen nicht zu bemerken, die ihnen den Weg frei machten und sich verbeugten. Sie hätten genausogut über ein einsames Feld reiten können - so wenig Beachtung schenkten sie ihrer Umgebung.
Jayjay fragte sich, wer sie sein mochten. Die beiden Männer waren nicht sonderlich elegant gekleidet. Sie trugen weiße verzierte Seidenhemden, enge Lederhosen und Reitstiefel. Trotzdem umgab sie eine Aura von Macht und Reichtum… und von Gefahr . Warum?
Waren sie Soldaten? Steuereintreiber? Jay war sich nicht sicher, aber die Blicke der Menschen in ihrer Umgebung machten deutlich, daß Jay ihnen besser aus dem Weg gehen sollte.
Die beiden Männer kamen näher, so daß Jay ihre Gesichter erkennen konnte. Der vordere Mann war der größere von beiden. Er war schon etwas älter, aber immer noch attraktiv. Sein rauhes Gesicht war ein deutliches Zeichen dafür, daß er die meiste Zeit seines Lebens im Freien verbracht hatte. Er besaß eine dunkle Haut und breite Schultern, und das sandfarbene Haar war zu einem Zopf zusammengebunden, was die harten Linien seines Gesichtes noch unterstrich.
Der zweite Mann war zunächst von dem anderen verdeckt worden, und erst als die beiden Reiter noch näher gekommen waren, konnte Jay ihn deutlich sehen. Er war schlank und dunkelhaarig. Der Mann besaß das asketische Aussehen eines Gelehrten oder eines Priesters.
Jayjay starrte ihn fasziniert an. »Heilige Maria, Mutter Gottes«, flüsterte sie. »Ich kenne ihn.«
Sophie hatte nur bemerkt, daß sich die Lippen ihrer Freundin bewegt hatten. »Was hast du gesagt?«
Inzwischen waren die Reiter fast neben den beiden Frauen angekommen, und Jay starrte sie noch immer verwirrt an. Erst im letzten Augenblick wandte sie sich ab, um nicht ertappt zu werden. Jay hatte den großen Mann noch nie gesehen, doch der andere… na ja, er trug keine Brille, und sein Haar war zerzaust, anstatt mit Gel nach hinten gekämmt zu sein. Außerdem machte er weder einen besonders spröden noch peniblen Eindruck.
Sophie stieß ihrer Freundin in die Rippen. Jay schreckte hoch.
»W-was?«
»Ich habe dich gefragt, was du gesagt hast. Du bist plötzlich so blaß… ist dir schlecht?«
»Nein.« Jay blickte den beiden Reitern hinterher, bis sie hinter der nächsten Ecke verschwunden waren. Sie zuckte mit den Schultern. »Einen Moment lang habe ich gedacht, ich würde einen von ihnen kennen.« Sie atmete tief durch. »Jeder Mensch besitzt einen Doppelgänger, glaube ich. Mir ist nur noch nie einer über den Weg gelaufen.«
»Wirklich nicht?« Sophie trieb ihr Pferd an. Sie mußte brüllen, um die Menge zu übertönen, die ihr geschäftiges Treiben wieder aufgenommen hatte, nachdem die beiden Männer verschwunden waren. »Vor ein paar Wochen habe ich ein Mädchen in Raleigh getroffen, das dir unglaublich ähnlich sah. Na ja, du bist brünett, und sie besaß rotes Haar… aber sehr dunkles rotes Haar. Man konnte kaum einen Unterschied feststellen. Ansonsten sah sie genauso aus wie du.« Sophie kaute auf ihrer Unterlippe und fuhr fort: »Allerdings schien sie jünger zu sein. Fünf Jahre jünger… oder vielleicht auch zehn.«
Jay seufzte. »Und zwanzig Pfund leichter.«
Sophie lachte. »Höchstens zehn. Sie sah genauso aus wie du vor fünf oder zehn Jahren.«
»Bis auf die roten Haare.« Jayjay kicherte leise vor sich hin und schüttelte den Kopf. »Ich hab’
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