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Gletschergrab

Gletschergrab

Titel: Gletschergrab Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnaldur Indridason
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unbeschriftet. Miller kniete nieder und zog den Reißverschluss des Sacks auf, der ihm am nächsten lag.
    Als er ihn geöffnet hatte, starrte ihm das porzellanweiße Gesicht eines nicht mehr ganz jungen Mannes entgegen, der eine deutsche Uniform trug. Geschlossene Lider, dunkelblaue Lippen, eine spitze Nase und ein dichter Haarschopf. Miller hätte es nicht überrascht, wenn die Leiche plötzlich wieder zum Leben erwacht wäre, und auf einmal hatte er Angst davor, seinen Bruder zu finden. Angst davor, das Antlitz zu sehen, das er vor so vielen Jahren gekannt hatte, leblos und blutleer und eisig.
    Zögernd öffnete er einen zweiten Sack, aber auch darin war sein Bruder nicht. Als er den dritten Sack öffnete, war er sich schon nicht mehr ganz sicher, ob er überhaupt weitermachen wollte. Er legte die Taschenlampe so zurecht, dass das Licht auf den Sack fiel, und zwang sich dazu, den Reißverschluss zu öffnen, aber der klemmte. Er bemerkte, dass er nicht bis oben hin geschlossen war, aber die Öffnung war zu klein, als dass er in den Sack hineinsehen konnte. Er riss mit aller Kraft an dem Reißverschluss, bis er sich gelöst hatte und er ihn ein Stück nach oben schieben konnte. Beim Herunterziehen klemmte er wieder.
    Erst nach einigen Versuchen gab der Reißverschluss endlich nach.
    Als er den Sack öffnete, erblickte er ein Antlitz, das sein Herz einen Schlag lang aussetzen ließ. Im schwachen Schein der Taschenlampe und ganz in seinen Erinnerungen gefangen glaubte er seinen Bruder zu sehen, wie er vor einem halben Jahrhundert gewesen war.
    Die Lippen waren blutrot, die Wangen gerötet, aber ansonsten 287

    war die Haut sehr blass. Für einen Augenblick erlag er der Sinnestäuschung und überlegte, ob sein Bruder sich seit ihrem letzten Treffen die Haare hatte wachsen lassen. Aber dann wurde ihm klar, dass er diese Gesichtszüge nicht kannte, weder Mund, Nase noch die Form des Gesichts. Das war nicht sein Bruder. Ganz und gar nicht.
    Miller taumelte entsetzt zurück, als die Leiche auf einmal die Augen öffnete und ihn mit funkelnden Augen ansah.
    »Was bist du denn für ein Opa?«, stieß Kristín hervor und richtete sich auf.
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    Als Kristín wieder zu sich kam und Júlíus’ Gesicht im Zelt auf dem Vatnajökull vor sich sah, brauchte sie eine Weile, um zu begreifen, was passiert war, und sich an die Horrorszene zu erinnern, die sich abgespielt hatte, bevor sie das Bewusstsein verlor.
    »Ich bin’s, Júlíus«, sagte der Mann, der sie in den Armen hielt.
    »Ich bin allein«, fügte er hinzu. Sein Mund war ganz dicht an ihrem Ohr. Wegen des ohrenbetäubenden Lärms draußen, von dem sie nicht wusste, woher er kam und was ihn verursachte, konnte sie kaum verstehen, was er sagte. Der Lärm ging ihr durch Mark und Bein, und das dröhnende Knattern verursachte Druckwellen, die wie ein dumpfer Herzschlag pulsierten.
    Im gleichen Augenblick erinnerte sie sich an Steve.
    Sie bäumte sich auf, befreite sich aus Júlíus’ Armen und schaute sich nach Steve um, der auf dem Schnee lag und sie immer noch mit toten Augen anstarrte. Júlíus versuchte, sie zurückzuhalten, aber sie schrie ihn an und schlug auf ihn ein, bis sie sich befreit hatte. Ihr Schrei ging im Gedröhn des Hubschraubers unter, der mit dem verhüllten Vorderteil der Junkers vom Eis abhob. Für einige Sekunden übertönte der Hubschrauber sämtliche anderen Geräusche auf dem Gletscher.
    Kristín kroch zu Steve und drehte ihn auf die Seite. Sie nahm ihn in die Arme, wimmerte leise und wiegte sich mit dem leblosen Körper in ihren Armen hin und her. Júlíus warf einen Blick auf die Männer beim Zelteingang, die gespannt den Hubschrauber beobachteten. Er wusste, dass sie jeden Moment wieder in das Zelt kommen konnten.
    Es hätte nicht viel gefehlt, und der Pavehawk hätte es nicht geschafft, das Flugzeugteil vom Eis zu hieven. Einen 289

    Augenblick lang sah es so aus, als würde die schwere Last ihn wieder herunterziehen. Dieser Teil der Junkers war offensichtlich nicht sorgfältig genug aus dem Eis herausgehackt worden, und die Männer im Zelteingang starrten wie gebannt auf den Kampf des Hubschraubers mit seiner Last.
    Unterdessen achtete niemand auf Júlíus und Kristín. Er versuchte vergeblich, sie von Steve loszureißen. Er brüllte ihr etwas ins Ohr, aber sie reagierte überhaupt nicht auf ihn. Er bückte sich und versetzte ihr noch einmal ein paar leichte Ohrfeigen, bis sie aufhörte zu schreien. Er löste Steves Leichnam aus ihren Armen und

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