Gletschergrab
der Junkers geworfen, und kurze Zeit später war auch der winzige Lichtschimmer durch die Ritze im Reißverschluss verschwunden. Wieder begann das unerträglich laute Knattern des Hubschraubers, jetzt direkt über ihr. Sie wurde hin und her geworfen, als das Heck der Junkers sich vom Eis löste und dann frei in der Luft schaukelte.
Kristín versuchte, den Reißverschluss zu öffnen, und es gelang ihr, ihn ein paar Zentimeter herunterzuziehen, aber dort klemmte 292
er fest. So sehr sie sich auch anstrengte, sie konnte ihn nicht mehr bewegen. Sauerstoff bekam sie genug, aber sie war von tiefster Finsternis umgeben.
Sie spürte kaum, als der Pavehawk seine Last sanft absetzte, die anschließend in die C-17 gefahren wurde. Sie versuchte, sich vorzustellen, was um sie herum vor sich ging. Als die Maschine über die Landebahn donnerte und abhob, wurde ihr klar, dass sie sich in einem Flugzeug befand, und sie bekam dieses seltsame Gefühl im Magen, das sie immer beim Fliegen hatte, und Druck auf den Ohren. Das dumpfe, grollende Dröhnen der Triebwerke gab zu erkennen, dass eine längere Reise bevorstand, als sie sich je hätte träumen lassen. Sie steckte immer noch in ihrem Winteroverall, der sie einigermaßen warm gehalten hatte, aber selbst dieser dicke Anzug konnte nur wenig gegen die Eiseskälte ausrichten, die jetzt in ihren Sack kroch. Seit sie sich sicher sein konnte, dass niemand mehr in ihrer Nähe war, hatte sie sich mit dem Reißverschluss abgemüht, aber ohne Erfolg. Das verdammte Ding saß fest, und sie begann sich zu fragen, ob sie jemals aus diesem Sack herauskommen würde. Sie hatte sich im Kampf mit dem Reißverschluss die Finger blutig gerissen und war schon fast zu der Überzeugung gelangt, dass sie in diesem Flugzeugwrack erfrieren würde, als sie auf einmal draußen ein Geräusch hörte und einen Lichtschimmer durch die Ritze im Reißverschluss sah. Sie war kurz davor, um Hilfe zu rufen, als ihr plötzlich einfiel, dass es Ratoff sein könnte.
Sie hörte asthmatisches Keuchen und Stöhnen, so als würde sich ganz in ihrer Nähe jemand fürchterlich abmühen. Plötzlich fummelte dieser Jemand an ihrem Reißverschluss herum, und als er endlich Erfolg hatte und der Sack sich öffnete, schloss Kristín die Augen und hielt den Atem an, bis sie es nicht mehr aushielt. Als sie die Augen öffnete, kniete Miller über ihr, und das Entsetzen stand ihm ins Gesicht geschrieben.
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»Um Gottes willen«, schrie Miller entsetzt und wich zurück, als er sah, wie Kristín sich aufrichtete. Er traute seinen eigenen Augen nicht.
»Wer sind Sie denn, verdammt nochmal?«, fragte Kristín, noch bevor der alte Mann sich wieder gefangen hatte.
»Wo bin ich? Wohin geht dieses Flugzeug?«
»Wer sind Sie?«, fragte Miller fassungslos. »Was machen Sie hier? Was geht hier eigentlich vor?«
»Ihr habt meinen Freund auf dem Gletscher umgebracht«, stieß Kristín hervor. Sie hatte sich aus dem Leichensack herausgeschält, war aufgestanden und starrte drohend auf den alten Mann herunter. »Mein Bruder schwebt zwischen Leben und Tod«, fuhr sie fort. »Ich will jetzt endlich wissen, was los ist. Was geht hier vor?«, schrie sie. »Was geht hier vor? Was ist so wichtig an diesem Flugzeug, dass ihr bereit seid, deswegen zu morden? Worum geht es eigentlich? WORUM GEHT ES, VERDAMMT NOCHMAL?«, brüllte sie Miller an.
Es hätte nicht viel gefehlt, und Kristín hätte in ihrer Verzweiflung dem alten Mann einen Tritt versetzt, aber in letzter Minute besann sie sich. Sie starrte ihn mit irrem Blick an, während er sich nicht vom Fleck rührte. So vergingen einige Sekunden, bis sie sich wieder in der Gewalt hatte. Die Muskeln im Gesicht und im gesamten Körper entspannten sich allmählich, und sie entkrampfte sich. Miller hatte sich ebenfalls etwas von dem Schock erholt und sich auf eine der beiden Goldkisten gesetzt, die in der Junkers waren. Sie konnte ein Hakenkreuz auf der Kiste erkennen.
»Um alles in der Welt, sagen Sie mir, warum diese Maschine so eine Bedeutung für euch hat«, bat sie Miller. Dann brach 294
wieder alles über sie herein.
»Wo ist Ratoff?«, fragte sie und blickte sich um.
»Ratoff ist nicht hier«, erwiderte Miller.
»Wo ist er?«
»Nicht hier.«
»Wo denn?«
»Ich weiß es nicht.«
»Dieser verdammte Mörder«, stieß Kristín auf Isländisch hervor. »Dieser gottverdammte, verfluchte Killer! Und wer sind Sie eigentlich? Wo sind wir überhaupt?«
»Wir sind an Bord einer
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