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Gletschergrab

Gletschergrab

Titel: Gletschergrab Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnaldur Indridason
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legte ihn behutsam in den Schnee. Kristín schien gar nicht zu bemerken, dass rings herum alles in Blut getränkt war.
    Er brachte sie dazu, aufzustehen, und sie folgte ihm wie in Trance. Aber als er mit ihr durch den Schlitz im Zelt hinauswollte, schien sie plötzlich wieder zu sich zu kommen und stemmte sich mit aller Macht dagegen, sodass Júlíus beinahe das Gleichgewicht verloren hätte. Sie wollte nicht noch einmal die Flucht ergreifen. Sie hatte begriffen, dass die Hubschrauber im Begriff waren, mit dem Beweismaterial davonzufliegen. Sie hatte gehört, wie Ratoff zu Simon gesagt hatte, dass die Leichen im Heck des Flugzeugs untergebracht werden sollten, damit die Hubschrauber alles auf einmal abtransportieren konnten. Jetzt würden die Scheißamis alles abstreiten können, wenn der Wirbel wegen der Truppen auf dem Gletscher losging. Wenn sie die Beweisstücke erst weggeschafft hatten, konnten diese Scheißamis nach Belieben ihre Lügenmärchen verbreiten.
    Kristín konnte das unter gar keinen Umständen zulassen, dazu steckte sie schon viel zu tief drin. Steve war vor ihren Augen umgebracht worden. Sie sah sich hektisch um und erblickte in der Ecke, wo die Leichen lagen, einen leeren Leichensack. Sie wies Júlíus darauf hin, aber er verstand sie nicht und wollte sie immer noch aus dem Zelt zerren. Sie widersetzte sich heftig, 290

    deutete auf sich selbst und den leeren Sack, legte ihren Mund an sein Ohr und schrie:
    »Hilf mir in diesen Sack rein.«
    Er starrte sie völlig verständnislos an und schüttelte den Kopf.
    »Kommt überhaupt nicht infrage«, rief er.
    Sie riss sich von ihm los, lief zu dem leeren Sack und zerrte an dem Reißverschluss. Auf einmal wurde Júlíus klar, dass die Zeit abgelaufen war und es jetzt es nur noch darum ging, Kristín zu retten. Er beeilte sich, ihr zu helfen, und ihm gelang es, mit einem heftigen Ruck den Reißverschluss herunterzuziehen. Er half ihr in den Sack hinein und machte den Reißverschluss wieder zu, ließ aber eine kleine Ritze offen. Schließlich schob er den Sack zu den anderen unter die Plane.
    Der Hubschrauberlärm ließ allmählich nach. Júlíus drehte sich um und wollte gerade wieder durch den Schlitz in der Zeltwand schlüpfen, als die Männer im Zelteingang das Interesse verloren hatten und sich umdrehten. Júlíus hatte den Schlitz bereits erreicht, machte aber keinen Versuch mehr zu fliehen, als er die Rufe der Soldaten hinter sich hörte.
    Erst als Kristín in den Sack geschlüpft war, dachte sie an Júlíus. Sie hatte keinen Gedanken daran verschwendet, was aus ihm werden würde, nachdem sie selber sich in dem Sack versteckt hatte. Sie hatte nur an sich selbst gedacht und daran, dass sich die Amis nicht einfach mit ihrer Beute aus dem Staub machen durften. Sie hatte noch nicht einmal Zeit gehabt zu überlegen, wieso der Leiter der Rettungsmannschaft auf einmal in dem Zelt gewesen war. Weswegen nur Júlíus? Wo war der Rest der Mannschaft?
    Der Hubschrauberlärm war nur noch entfernt zu vernehmen, und sie hörte, wie die Mitglieder der Spezialeinheiten Júlíus anbrüllten. Simon, dachte Kristín. Er war also immer noch im Zelt.
    Sie hörte, wie Júlíus erklärte, er sei unbewaffnet. Er habe sich 291

    auf das Gelände verirrt und sei ganz zufällig in dieses Zelt gekommen. Das war eine ziemlich schwache Lüge, das war Kristín klar.
    »Wo ist diese blöde Gans?«, brüllte Simon.
    »Sjálfur geturðu verið stelpufífl«, antwortete Júlíus auf Isländisch.
    »Was?«
    »Entschuldigung, was für eine blöde Gans meinst du eigentlich?«, sagte Júlíus auf Englisch.
    Kristín hörte, wie Simon nach Verstärkung rief. Er befahl den Soldaten, die bei ihm standen, das ganze Lager zu durchkämmen. Sie hörte, wie Júlíus ein Gewehrkolben an der Schläfe traf und er aufs Eis stürzte. Dann betraten noch mehr Soldaten das Zelt, sie wurde hochgehoben und wusste, dass man sie jetzt aus dem Zelt hinaustrug.
    Der ziemlich weite Leichensack hatte an allen vier Ecken Griffschlaufen. Die vier Soldaten hoben ihn mühelos hoch und rannten mit ihm hinunter zum Wrack, gefolgt von den anderen Soldaten mit den restlichen Säcken. Sie lag auf dem Rücken und rührte sich nicht. Sie machte sich so steif und unbeweglich, wie sie konnte. Durch den Reißverschluss, den Júlíus ein Stückchen offen gelassen hatte, drang ein Lichtschimmer herein. Auf dem Weg zum Flugzeugwrack konnte sie den sternenübersäten Himmel über sich sehen.
    Der Sack wurde unsanft auf den Boden

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