Gletschergrab
Schottland haben sie eine Zwischenlandung eingelegt, und in Reykjavik wollten sie auf ihrem Weg in die USA ebenfalls heimlich zwischenlanden. Aber auf dem Weg dorthin gerieten sie in ein Unwetter und stürzten über dem Gletscher ab. Keiner von ihnen ist je in bewohnten Gebieten wieder aufgetaucht, sodass wir davon ausgehen können, dass alle ums Leben gekommen sind. Die Quellen dieser Informationen sind nur bis zu einem gewissen Grad verlässlich. Keiner, der etwas mit dem Diebstahl des Goldes zu tun hatte, hat sich gestellt und gestanden, daran beteiligt gewesen zu sein. Das ist verständlich. Trotzdem besteht kein Anlass, am Wahrheitsgehalt der Geschichte zu zweifeln.«
»Um wie viel Gold geht es?«
»Sechs bis acht Tonnen.«
»Das ist wirklich eine unangenehme Geschichte«, sagte der Minister mehr zu sich selbst. Man konnte ihm ansehen, dass er aus der Fassung gebracht war. Mit so etwas hatte er nicht 49
gerechnet, als er Carr zu sich zitiert hatte, um ihm wegen seiner ewigen Geheimniskrämerei die Leviten zu lesen.
»Das ist noch nicht alles«, sagte Carr.
»Was, das war noch nicht alles?« Der sorgenvolle Ton war nicht zu überhören.
»Es gibt noch etwas, das diese interessante Goldgeschichte für uns so gefährlich macht. Politisch gefährlich.«
»Was denn? Worum handelt es sich?«, fragte der Minister.
Inzwischen war er so weit wie möglich auf dem Stuhl nach vorn gerutscht.
»Es geht um die Herkunft des Goldes.«
»Herkunft? Herkunft! Was meinen Sie damit? Was soll mit der Herkunft des Goldes sein?«
»Es wäre vielleicht kein Problem, wenn …«
»Was? Was ist daran politisch gefährlich?«
»Ein Großteil des Goldes stammt aus den Vernichtungslagern der Nazis«, sagte Carr.
Der Minister brauchte einen Moment, bis ihm die Antwort Carrs klar wurde und er ihre volle Bedeutung begriff.
»Um Himmels willen«, stöhnte er. »Geht es um Gold von Juden? Zähne? Schmuck? Haben wir ein Flugzeug auf dem Gletscher, randvoll mit gestohlenem Judengold?«
»Niemand würde uns glauben, dass es von ein paar Einzeltätern unter den amerikanischen Soldaten gestohlen worden ist. Die ganze amerikanische Nation stünde unter Anklage, der Präsident, das Parlament und natürlich die Geheimdienste.«
»Um Gottes willen!«
»Sie verstehen, was für ein verdammtes Problem wir da am Hals haben.«
Der Minister dachte einen Moment nach.
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»Sie haben Recht. Vollkommen Recht«, sagte er.
»Womit?«
»Dieses Flugzeug darf niemals gefunden werden«, sagte der Minister. »Niemals.«
»Dafür sind die Geheimdienste da«, sagte Carr und verzog sein Gesicht zu einem leichten Grinsen.
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6
Ratoff hielt das Handy des jungen Mannes, der sich Elías nannte, in der Hand und überprüfte, welche Nummer zuletzt angewählt worden war. Der Speicher zeigte an, dass das letzte Gespräch vor gut zwölf Minuten unterbrochen worden war.
Verdammt, dachte Ratoff und ging in das Kommunikationszelt, das neben dem Flugzeug aufgebaut worden war. Der Kerl hatte Zeit genug gehabt, die Lage vor Ort bis ins kleinste Detail zu beschreiben. Das Display zeigte nur eine einzige Nummer an.
Das Handy sah neu und so gut wie unbenutzt aus.
»Sagen Sie der Botschaft, sie sollen herausfinden, wem diese Nummer gehört«, befahl Ratoff dem Nachrichtentechniker.
»Außerdem muss ich mit Vytautas sprechen.«
»Vytautas?«, fragte der Funker.
»Carr«, schnaubte Ratoff. »Verbinden Sie mich mit General Carr! Vytautas Carr!«
Ratoff trat wieder aus dem Zelt. Das Flugzeug ragte nun halb aus dem Eis. Im Licht von vier starken Scheinwerfern, die rund um das Flugzeug aufgebaut worden waren, schaufelte eine Gruppe Männer der Spezialeinheiten es weiter aus dem Schnee.
Der vordere Teil des Flugzeugs, der wie eine gereckte Faust in die Luft ragte, schien fast unversehrt. Ratoff konnte Carrs Vermutung bestätigen, dass es sich dabei um den Typ Junkers JU-52 handelte, der im letzten Weltkrieg meistens »eiserne Anna« oder »Tante Ju« genannt wurde. Die Junkers’ gehörten zu den wichtigsten Frachtmaschinen der Deutschen und wurden insbesondere für den Transport von Fallschirmjägern eingesetzt.
Ihr Antrieb bestand aus drei Propellertriebwerken der Bayerischen Motoren Werke mit jeweils achthundert PS, einer davon vorn am Bug der Maschine. Dort hing der Propeller noch immer, auch wenn die Flügel sich durch den Aufprall auf dem 52
Gletscher nach hinten gebogen hatten. Unter dem Fenster der Flugkabine war ein schwarzes Hakenkreuz zu erkennen.
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