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Gletschergrab

Gletschergrab

Titel: Gletschergrab Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnaldur Indridason
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Passfoto.
    »Bingo«, sagte er und ließ den Pass fallen.
    »Jetzt sei ein braves Mädchen«, sagte David auf Englisch, während er ihr die Pistole an die Schläfe drückte, »und setz dich hier an den Schreibtisch.« Er stieß sie hinter den Schreibtisch, und sie setzte sich, während die Pistole an ihrer Schläfe klebte.
    Der Kopf tat ihr weh.
    Simon trat hinzu, öffnete an Kristíns Computer ein neues Dokument und tippte etwas von einem Zettel ab, den er aus der Hosentasche holte. Er arbeitete schnell und konzentriert.
    Untereinander unterhielten sie sich auf Englisch über etwas, das sie nicht verstand. Beide schienen Amerikaner zu sein, aber zu Kristíns Überraschung schrieb der Mann auf Isländisch irgendeinen völlig zusammenhanglosen Unfug: Ich kann einfach nicht mehr lesen. Verzeiht mir. Was macht er 55

    da?, fragte sie sich. Was denn lesen? War er es, der einfach nicht mehr lesen konnte? Sie verstand nicht, was damit gemeint war.
    Verstand nicht, was hier vorging. Erst versuchte sie, auf Isländisch mit ihnen zu reden, dann auf Englisch, aber sie würdigten sie keiner Antwort. Sie wusste, dass in den vergangen Jahren die Raubüberfälle in der Stadt zugenommen hatten, aber von so einem Überfall hatte sie noch nie gehört. Erst hatte sie das Ganze für einen blöden Streich gehalten. Jetzt war sie davon überzeugt, dass sie es mit Einbrechern zu tun hatte. Aber warum dann dieser unbegreifliche Satz auf dem Computer.
    »Nehmt mit, was ihr wollt«, sagte sie auf Englisch.
    »Nehmt alles, was ihr wollt, und geht. Lasst mich in Ruhe.«
    Sie spürte, wie sie ganz taub wurde vor Angst. Vielleicht waren es gar keine Einbrecher, vielleicht war alles noch viel schlimmer. Als sie sich diesen Augenblick später noch einmal ins Gedächtnis zurückrief, und das würde sie in den nächsten Tagen wieder und wieder tun, fiel es ihr schwer, sich zu erinnern, was ihr in diesen denkwürdigen Minuten durch den Kopf gegangen war, nachdem die Mormonen über sie hergefallen waren. Es ging alles so schnell, dass sie überhaupt nicht gewahr wurde, worum es eigentlich ging. Es waren absurde, völlig unbegreifliche Minuten, ein einziger Albtraum.
    So etwas gab es gar nicht. Nicht in Island. Nicht in Reykjavik.
    Nicht in ihrem Leben.
    »Nehmt euch, was ihr wollt«, wiederholte sie.
    Die Mormonen gaben ihr keine Antwort.
    »Meint ihr mich?«, fragte sie immer noch auf Englisch und zeigte auf den Bildschirm. »Soll ich das sein, die nicht mehr lesen kann?«
    »Lesen?«, fragte Simon, der vor dem Rechner stand.
    »Was meinst du mit lesen? Das soll leben heißen, nicht mehr leben. Diese verdammten Idioten in der Botschaft.«
    Er schaute noch einmal auf den Zettel. »Oh, Verzeihung, das 56

    war mein Fehler.« Er korrigierte den Buchstaben.
    »Danke schön«, sagte er zu Kristín.
    In der Botschaft, dachte Kristín.
    »Soll ich etwa diejenige sein, die nicht mehr länger leben will?«, fragte sie.
    »Dein Bruder ist tot, und du willst nicht mehr länger leben. So einfach ist das«, sagte Simon.
    »Mein Bruder? Elías? Was meinst du damit, tot? Wer seid ihr?
    Seid ihr Freunde von Elías? Wenn das ein Witz sein soll … Wer seid ihr?«
    »Ganz ruhig, Kleine«, sagte David.
    »Was geht hier vor?«, rief Kristín völlig verstört und wurde plötzlich von Wut gepackt.
    »Eine Verschwörung der Reykjaviker Polizei, des isländischen Außenministeriums und des Justizministeriums«, sagte Simon ernst und sah David an. Das Ganze machte ihm Spaß.
    »Verschwörung?«, fragte Kristín auf Isländisch.
    »Außenministerium? Elías? Was für ein Streich soll das sein?
    Was ist das eigentlich für ein Schwachsinn?« Sie hatte angefangen zu schreien.
    »Streich?«, fragte David, der sich nicht aus der Ruhe bringen ließ. »Was heißt das?«
    »Streik, oder?«, gab Simon zurück.
    »Was für ein Streik?«, fragte David.
    »Sie rafft überhaupt nichts«, meinte Simon. »Jetzt«, sagte er dann und entfernte sich zwei Schritte von Kristín.
    David legte den Finger an den Abzug, und Kristín sah aus den Augenwinkeln den Lauf der Pistole an ihrer Schläfe. Sie schloss die Augen. Aber statt eines Schusses unterbrach plötzlich ein heftiges Klopfen an der Tür die Stille.
    David nahm die Pistole von Kristíns Kopf und gab ihr ein 57

    Zeichen, still zu sein. Simon ging zur Tür und spähte durch den Türspion. Dann kam er wieder zurück zu David ins Wohnzimmer.
    »Ein Mann um die vierzig, allein, ungefähr so groß wie wir.«
    »Lass ihn rein«, sagte David.

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