Gletschergrab
da sie befürchtete, dass die Mormonen oder ihre Komplizen alles über sie wussten und ihr dort auflauern würden.
Nach dem Telefonat mit ihrem Bruder auf dem Gletscher waren nur wenige Minuten vergangen, bis die beiden vor ihrer Tür 74
aufgetaucht waren. Vielleicht hörten sie ihr Telefon ab?
Weswegen? War es wegen Randolf? Sie hatten ihn umgebracht.
Er hatte von einer Verschwörung gesprochen. Von der Russenmafia.
Sie kannte nur einen einzigen Menschen, der ihr etwas über die Soldaten erzählen konnte.
Sie schaute zu ihrem Haus hinüber. Die Polizei war nirgendwo zu sehen. Alles war ruhig. Sie drehte sich um und ging wieder.
Auf der Hauptausfallstraße hielt sie ein Taxi an. Der Taxifahrer nahm sowohl Kreditkarten als auch EC-Karten. Kristín hatte kein Bargeld dabei. Nur ihre Karten.
»Wohin soll’s denn gehen?«, fragte der Taxifahrer.
»Nach Keflavík«, erwiderte sie und spähte ängstlich durch die Rückscheibe.
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Ratoff konnte nicht erkennen, wo sie aufschlugen, er hörte nur, wie sie über das Eis schrammten und tief unten in der Gletscherspalte aufprallten. Auf dem Gletscher war es stockdunkel. Der Mond kam nicht unter den dichten Wolken hervor. Ratoffs Kettenfahrzeug und die Motorschlitten tauchten den Gletscher in einen schwachen Schein. Einer der beiden jungen Männer war bewusstlos, als sie zu der Gletscherspalte kamen. Der andere war tot. Nach den beiden ließ Ratoff die beiden Motorschlitten in die Spalte werfen, während die Spezialeinheiten sich damit beschäftigten, ihre Spuren zu verwischen. Danach wählte Ratoff mit Elías’ Handy die Nummer der Bergnotrettungsmannschaft auf dem Gletscher und ließ das Telefon aufs Eis fallen.
Er hatte aus Elías die wichtigsten Informationen über seine Schwester herausholen können und sie an David und Simon weitergegeben. Elías hatte lange Widerstand geleistet, aber Ratoff verstand sein Handwerk. Der Bruder hatte ihm von Kristíns Freunden erzählt, von ihren Kollegen, der Wohnung ihres Vaters, von dessen langen Auslandsreisen, sogar von Kristíns Liebhabern, von dem Juristen und dessen Freunden, er hatte ihm erzählt, dass ihre Mutter vor einigen Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen war. Er hatte auch erzählt, dass Kristín ihr Studium in Kalifornien abgeschlossen hatte, dass sie ungern durch Island reiste, manchmal ihre Freunde im Ausland besuchte und dass sie nicht das geringste Interesse an irgendwelchen Gletschertouren in Island hatte. Am Ende hatte Ratoff alles erfahren, was er wissen wollte, und Elías hatte nur noch um Gnade gefleht. Da war sein Freund Jóhann schon tot.
Als Letztes hatte Elías gehört, dass seine Schwester ermordet worden war. Er verlor das Bewusstsein, als Ratoff ihm das ins 76
Ohr flüsterte.
Die Männer der Spezialeinheiten wechselten sich in Vier-Stunden-Schichten bei der Arbeit ab, das Flugzeug aus dem Eis freizuschaufeln. In einer Schicht arbeiteten sechzig Männer, und alles ging planmäßig voran. Das Flugzeug kam Stück für Stück aus dem Eis hervor, inzwischen konnte man bereits durch das erste Seitenfenster in die Passagierkabine sehen. Als Ratoff wieder im Basislager eintraf, trat er an das deutsche Flugzeug heran und sah lange Zeit durchs Fenster. Er glaubte, einige Leichen auf dem Boden der Maschine erkennen zu können. Als aus dem Kommunikationszelt nach ihm gerufen wurde, richtete er sich auf. David war am Telefon.
»Sie hat eine Karte benutzt, um ein Taxi nach Keflavík zu bezahlen«, sagte David. »Hat ihr Bruder irgendwas von Keflavík erzählt?«
»Warum fährt sie nach Keflavík?«, fragte Ratoff, ohne auf die Frage einzugehen. »Was ist da eigentlich los? Was weiß sie?
Wäre es in ihrer Situation nicht logischer, sich an die Polizei in Reykjavik zu wenden?«
Es entstand eine kurze Pause.
»Sie weiß, dass es zumindest sehr wahrscheinlich ist, dass ihr Bruder tot ist«, sagte David. »Und es kann sein, dass sie deinen Namen kennt. Simon hat ihn ausgeplappert. Möglicherweise glaubt sie, dass sie wegen einer Verschwörung ermordet werden sollte, in die sowohl die Polizei in Reykjavik wie auch das isländische Außenministerium und Justizministerium verwickelt sind. Simon ist ein bisschen über die Stränge geschlagen.«
»Meinen Namen!«, brüllte Ratoff. »Ihr habt meinen Namen genannt? Seid ihr noch ganz bei Trost?«
»Eigentlich konnte doch gar nichts mehr schief gehen. Wir haben bloß nicht mit diesem idiotischen Kerl gerechnet, der zu Besuch kam.«
»Zum Teufel
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