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Gletschergrab

Gletschergrab

Titel: Gletschergrab Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnaldur Indridason
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werden, damit die Rettungsmannschaft uns nicht auch noch in die Quere kommt, wenn sie nach ihnen sucht.«
    »Waren das junge Männer?«
    »Jung? Was spielt das für eine Rolle? Sie haben uns gesehen und das Flugzeug auch. Dafür waren sie alt genug.«
    »Und jetzt ist wieder alles in Ordnung?«
    »Einer der beiden hat eine Schwester in Reykjavik.«
    »So!« Die Enttäuschung war seiner Stimme deutlich anzuhören.
    »Er hatte telefonisch Kontakt mit ihr, nachdem er zu uns vorgedrungen war. Wir wissen, wer sie ist, aber sie ist uns entkommen. Wir sind ihr auf den Fersen.«
    »Wer ist ›wir‹?«
    »David und Simon. Nicht unsere besten Leute, ich weiß, aber wir standen unter Zeitdruck.«
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    »Ratoff, reiß dich um Himmels willen zusammen. Die Isländer sind immerhin unsere Verbündeten.«
    Carr legte auf, nahm den Hörer aber direkt wieder ab und wählte. Er konnte ein Stöhnen nicht unterdrücken. Jetzt war die Zeit für den zweiten Teil des Plans gekommen. Der Minister hatte Bedenken in Bezug auf Ratoff, und Carr fragte sich inzwischen selber, ob er die richtige Wahl für die Leitung dieser Operation gewesen war. Er zog seine Aufträge konsequent durch, ging dabei aber nicht selten zu weit. Carr kannte Ratoffs militärische Vergangenheit am besten. Es dauerte eine ganze Weile, bis am anderen Ende der Leitung jemand den Hörer abnahm, und unterdessen dachte er darüber nach, was jetzt alles auf ihn zukam. Er würde nach Island fliegen müssen.
    Zuerst musste er jedoch ein altes Versprechen einlösen.
    »Miller?«, fragte er. »Vytautas hier. Das Flugzeug ist aufgetaucht. Wir müssen uns treffen.«
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    9
    Kristín rannte, so schnell sie konnte, durch das Viertel auf das Meer zu und bog dann an der Ægisíða ab. Sie hielt sich, so gut es ging, im Schutz dunkler Gärten. Sie war ausschließlich von dem Gedanken beherrscht, den beiden Mormonen zu entkommen, und blickte sich kein einziges Mal um. Die Kälte spürte sie gar nicht. Bruchstückhaft schossen ihr die schrecklichsten Dinge durch den Kopf. Immer wieder sah sie vor sich, wie Randolfs Blick erlosch, als er die Kugel in die Stirn bekam. Hörte das Pfeifen einer zweiten Kugel und sah sie in die Tür einschlagen. Spürte den Schmerz am Ohr, das immer noch blutete. Sie dachte an ihren Bruder auf dem Gletscher. Sie hatten gesagt, er sei tot. Sie rief sich seine letzten Worte ins Gedächtnis zurück: bewaffnete Soldaten, Flugzeug. Einige Minuten später waren zwei Männer in ihre Wohnung eingedrungen und wollten sie umbringen. Gekleidet wie Mormonen, die von Tür zu Tür gingen. Sie hatten einen Namen erwähnt, Ratoff. Von einer Verschwörung hatten sie gesprochen, die Reyjavíker Polizei, das Außenministerium und das Justizministerium sollten darin verwickelt sein. Sie hatte das zuerst für einen Witz gehalten, aber jetzt nicht mehr. Nicht, nachdem Randolf vor ihren Augen zusammengebrochen war.
    Nach einer Weile machte sich die Kälte bemerkbar. Im Laufen nahm sie allen Mut zusammen und blickte sich um. Die beiden Männer waren nirgendwo zu sehen. Sie verlangsamte das Tempo, sah sich noch einmal gründlich um und blieb schließlich stehen. Rundherum waren lauter Hochhäuser. In einem war der Raum mit den Mülltonnen geöffnet, dort lief sie hinein und schloss die Tür hinter sich. Es roch durchdringend nach Müll, und der Raum war stockdunkel. Sie tastete sich bis zur hintersten Ecke vor und kauerte sich in der Dunkelheit 71

    zusammen.
    Sie hatte kein Gefühl dafür, wie lange sie dort gesessen hatte.
    Dort unten war keine Menschenseele, und nach einer Weile schlich sie nach vorn und öffnete vorsichtig die Tür. Sie spähte durch den Türspalt. Keine Menschenseele. Sie hatten die Verfolgung aufgegeben. Sie sah sich sorgfältig um. Ganz in der Nähe lag eine kleine Reihenhaussiedlung. Die Häuser warfen warmes Licht in die Dunkelheit und die Kälte. Was sollte sie jetzt tun? Sollte sie einfach an irgendeiner Tür klopfen und alles erzählen? Von den Mormonen, der Leiche in ihrer Wohnung und der Verschwörung der Polizei? Wenn die Polizei darin verwickelt war, wem konnte sie dann von dem Mord berichten, von ihrem Bruder auf dem Gletscher, von den beiden Mördern?
    Was, wenn das Außenministerium, für das sie arbeitete, ebenfalls etwas damit zu tun hatte? Sie tastete ihre Jacke ab. Ihr Portemonnaie steckte in der Innentasche.
    Scheiße!, dachte sie. Was, wenn sie Elías umgebracht hatten, genau wie Randolf, den sie direkt vor ihren Augen ermordet hatten? Was

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