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Gletschergrab

Gletschergrab

Titel: Gletschergrab Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnaldur Indridason
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wurde hier überhaupt gespielt? Und was für Leute waren das eigentlich?
    Langsam gewann die Wut die Oberhand und half ihr, klarer und logischer zu denken. Sie brauchte ein Dach über dem Kopf, sie musste irgendwo Kleidung herbekommen und an Informationen gelangen, sie musste auf den Gletscher und ihrem Bruder helfen. Falls er überhaupt noch am Leben war. Sie traute sich nicht, sich an die Polizei oder das Ministerium zu wenden.
    Nicht jetzt. Nicht bevor sie etwas Genaueres wusste. Nicht bevor sie sich sicher sein konnte, dass ihr von dort keine Gefahr drohte. Aber wohin sollte sie? Wenn sie von ihr wussten, wussten sie dann auch von ihrem Vater? Zu ihm konnte sie nicht. Papa! Musste sie ihn nicht warnen? Würden sie als Nächstes vielleicht bei ihm auftauchen?
    Sie verließ den Containerraum, rannte hinüber zu der Reihenhaussiedlung und hämmerte wild an die Tür des 72

    nächstgelegenen Hauses. Klingelte Sturm. Wenige Augenblicke später kam der Hausherr an die Tür, dicht gefolgt von seiner Ehefrau und zwei Kindern. Sie hatten vor dem Fernseher gesessen und waren von dem Lärm an der Tür aufgeschreckt worden. Kaum öffnete sich die Tür, drängte Kristín sich ins Haus.
    »Ich muss telefonieren«, sagte sie. »Wo ist das Telefon?«
    »Ich muss doch sehr bitten«, sagte der Hausherr und musterte sie von oben bis unten. Trotz der Kälte war sie verschwitzt und außer Atem, die Angst stand ihr ins Gesicht geschrieben, sie war nass bis auf die Knochen, und ihr Ohr blutete so stark, dass die ganze rechte Seite ihres Gesichts blutverschmiert war.
    »Wo ist das Telefon?«, brüllte sie den Mann an, sodass er rückwärts in die kleine Küche taumelte und auf das Telefon zeigte. Die Familie scharte sich um ihn.
    »Entschuldigung«, sagte sie, als sie die angstvollen Gesichter der Kinder sah. Sie nahm den Hörer ab und rief ihren Vater an.
    Drei Klingelzeichen, sechs. Er ging nicht an den Apparat. Sie versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen. Auf einmal meldete sich der Anrufbeantworter. Sie wartete ungeduldig auf den Pfeifton und sprudelte dann hektisch hervor:
    »Papa! Du musst untertauchen! Sobald du das hier hörst.
    Verschwinde. Sie haben schon jemanden umgebracht und versucht, mich zu ermorden, und sie wollen dich bestimmt auch kriegen. Es sind zwei, die sehen aus wie Mormonen. Das ist kein Scherz! Tu es einfach. Tauch unter! Sofort! Papa, es kann sein, dass Elías tot ist. Tauch unter. Mach dir keine Sorgen um mich. Tauch unter! Das ist irgendeine Verschwörung! Versuch nicht, mich zu finden. Ich muss selbst untertauchen.«
    Die kleine Reihenhausfamilie starrte Kristín an. Der Mann sah seine Frau an, und dann schauten beide auf die Kinder. Die Familie schob sich noch enger aneinander. Alle zusammen starrten sie auf diese merkwürdige, völlig außer Fassung 73

    geratene Frau, die gerade diese Nachricht auf dem Anrufbeantworter hinterlassen hatte. Kristín legte auf und drehte sich zu der Familie um. Sie traten alle gleichzeitig einen Schritt zurück.
    »Das ist alles die reine Wahrheit«, sagte Kristín, als sie den Gesichtsausdruck der Leute bemerkte. »Man hat versucht, mich umzubringen. Könnt ihr mir ein paar Klamotten leihen? Ruft auf keinen Fall die Polizei an. Versucht, das Ganze zu vergessen.
    Die Polizei könnte da mit drinstecken. Habt ihr irgendwelche Sachen, die ihr mir leihen könnt? Mein Gott, mir ist so entsetzlich kalt. Schuhe und Socken?«
    »Wenn wir dir etwas zum Anziehen geben«, sagte die Frau so gefasst wie möglich, »gehst du dann?«
    »Auf der Stelle«, sagte Kristín. »Aber verständigt bloß nicht die Polizei.«
    Kurze Zeit später verließ sie das Reihenhaus in der Kleidung der Hausfrau, und die Tür fiel hinter ihr ins Schloss. Ihr Ohr war mit einem Pflaster versorgt worden. Sie ging langsam die Stichstraße hinunter und bog in die Hauptstraße ein. Vereinzelte Autos kämpften sich vorsichtig auf der völlig verschneiten Straße an ihr vorbei. Kristín hatte etwas gegen Schnee. Sie kannte nur zwei Worte dafür: nass und kalt. Sie lief über den Bürgersteig und überlegte, was sie machen sollte. Sie ging zu ihrer Wohnung im Tómasarhagi zurück und schaute sich sorgfältig um. In ihrem Kopf nahm langsam ein Plan Gestalt an, auch wenn sie immer noch nicht in der Lage war, richtig klar zu denken. Logisch zu denken. Den einfachsten Weg zu finden.
    Das musste sie jetzt ganz allein durchstehen, zumindest fürs Erste. Sie wagte nicht, bei ihren Freunden oder Bekannten Hilfe zu suchen,

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