Gletschergrab
Sprung ging fast drei Meter in die Tiefe, aber der lockere Pulverschnee dämpfte den Stoß. Sie blieb einen Augenblick stehen und lief dann weiter.
Auf der Fahrt nach Keflavík hatte sie versucht, Ordnung in ihre Gedanken zu bringen, alles noch einmal logisch zu durchdenken, um klarer zu sehen. Randolf hatte Geschäfte mit den Russen gemacht und im Büro des Ministeriums behauptet, es sei eine Verschwörung gegen ihn im Gange. Er hatte den 88
Ministerialdirigenten bedroht und lag jetzt mit einer Kugel im Kopf in ihrer Wohnung. Er hatte von der russischen Mafia gesprochen. Sie selbst war ebenfalls zur Zielscheibe der Mörder geworden. Die hatten auch von einer Verschwörung geredet.
Aber die beiden waren Amerikaner. Wie passte das zusammen?
Und wie hing das alles mit ihrem Bruder auf dem Gletscher zusammen und dem, was er dort gesehen hatte? Stimmte es, dass Elías tot war? War Elías tot? Sie wagte nicht, diesen Gedanken zu Ende zu denken.
Es dauerte nicht lange, bis sie vor einem Mehrfamilienhaus stehen blieb und auf die Klingel drückte. Das dreistöckige Haus mit seinen zwölf Wohnungen hatte zwei Treppenhäuser. Der mächtige Betonklotz war wie die anderen Unterkünfte der auf der Basis stationierten Soldaten von isländischen Bauunternehmern gebaut worden.
»Ja«, kam es nach einer Weile durch die Gegensprechanlage.
»Steve?«
»Ja.«
»Ich bin’s, Kristín«, sagte sie auf Englisch. »Ich muss mit dir reden.«
»Kristín? Kristín! Einen Augenblick.«
Er drückte auf den Türöffner, und sie suchte im dunklen Eingang nach dem Lichtschalter. Als sie Licht gemacht hatte, sah sie sich um. Neben ihr hing ein Zigarettenautomat an der Wand, daneben ein weiterer Automat, an dem man Schokolade und Nüsse ziehen konnte. Der Bodenbelag bestand aus PVC. Sie ging in die oberste Etage. Die Tür zu Steves Wohnung stand offen, und sie klopfte kurz an.
»Komm rein«, rief er aus der Wohnung, wo er in großer Hast aufräumte. Was nicht viel änderte. Sie ging hinein und schloss die Tür hinter sich.
»Hi«, sagte Steve mit einem großen Packen Zeitungen und 89
Zeitschriften auf dem Arm, die er vom Boden und vom Sofa aufgesammelt hatte. »Entschuldige bitte das Chaos. Ich habe nicht mit dir gerechnet. Ehrlich gesagt, mit dir habe ich am allerwenigsten gerechnet.«
»Das macht nichts«, sagte Kristín.
»Ich war ein bisschen eingenickt. Was führt dich denn hierher?
Es muss mindestens ein Jahr her sein, dass wir …«, er brach mitten im Satz ab.
Sie war früher einmal bei ihm zu Hause gewesen, und seither schien sich nichts verändert zu haben. Die Wohnung war klein: Küche, Wohnzimmer, Schlafzimmer und ein kleines Bad. Dort lag alles wie Kraut und Rüben durcheinander, Zeitungen türmten sich, in einer Ecke summte der Computer, in der Küche flogen Verpackungen von Fertiggerichten herum, und das dreckige Geschirr stapelte sich in der Spüle. An den Wänden hingen Fotos und Plakate. James Dean in einem langen Mantel auf einer Straße in New York. Im Regen. Der Revolutionär Che Guevara. Schwarze Konturen auf rotem Grund.
»Ich wusste nicht, wohin«, sagte Kristín und versuchte, ihre Gefühle unter Kontrolle zu bekommen. Sie war kurz davor, in Tränen auszubrechen, und Steve spürte, wie aufgewühlt sie war.
»Was ist los?«, fragte er und legte die Zeitungen beiseite.
»Ich wusste nicht, wohin«, wiederholte Kristín. »Du musst mir helfen. Meinem Bruder ist etwas Schreckliches zugestoßen.«
»Zugestoßen? Deinem Bruder? Meinst du Elías? Was ist mit ihm?«
»Zwei Männer haben vorhin versucht, mich umzubringen. Es waren Amerikaner.«
»Dich umzubringen? Aber …«
»Und sie haben Randolf ermordet.«
»Randolf?« Steve fiel es schwer, den Namen auszusprechen.
Es fiel ihm auch schwer, Kristín zu verstehen. »Wovon sprichst 90
du eigentlich? Was ist los?«
»Ich wusste nicht, wohin«, sagte Kristín noch einmal.
Steve verstand nicht, wovon sie sprach, begriff aber, dass irgendetwas Schlimmes passiert war. Er ging langsam zu ihr, legte den Arm um sie und führte sie ins Wohnzimmer.
»Sie haben versucht, mich umzubringen«, sagte sie und schluchzte heftig. »Ich weiß nicht, warum. Sie haben gesagt, es sei eine Verschwörung der Polizei und des Ministeriums. Elías hat mich vom Gletscher aus angerufen und gesagt, er habe Soldaten gesehen und ein Flugzeug, und dann war die Verbindung weg. Ich versuchte gerade, die Bergnotrettungsgesellschaft anzurufen, als die Mormonen kamen. Sie sagten, ich
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