Gletschergrab
hatte. Ansonsten wusste Thompson kaum etwas über sie und wollte so wenig wie möglich über sie sprechen. Er sagte, dass er ihr seinem alten Vorgesetzten zuliebe alle paar Jahre einen Besuch abstattete, aber dass diese Besuche sehr anstrengend seien und er nie lange bliebe.
Sie wohnte im Þingholt-Viertel in einem kleinen, heruntergekommenen Holzhaus. Am Sockel des Hauses fraß an vielen Stellen der Rost an der Wellblechverkleidung. Das Haus hatte kleine, einfach verglaste Fenster. Die Haustür war einmal grün gewesen, jetzt aber war die Farbe größtenteils abgeblättert.
Eine große Konifere stand mitten in dem kleinen Garten, der 147
zum Haus gehörte. Der alte Gartenzaun war zerbrochen und teilweise umgefallen.
Kristín und Steve gingen langsam auf das Haus zu und sahen sich wachsam um. Sie glaubten, unbemerkt aus der Basis entkommen zu sein, waren aber trotzdem auf der Hut. Sie traten in den Lichtkegel der Türlampe am Haus von Sarah Steinkamp.
Ein scharfer Wind biss ihnen ins Gesicht.
Steve klingelte. Der Name auf dem kleinen Messingschild war kaum zu entziffern. Trotzdem meinte Kristín, mit Mühe den Namen Sarah Steinkamp darauf erkennen zu können. Es stand nur ein einziger Name auf dem Schild. Die obere Etage war nicht bewohnt. Wie leere Augenhöhlen starrten ihnen die dunklen Fenster entgegen. Steve drückte noch einmal auf die Klingel, aber von drinnen kam kein Lebenszeichen. Sie konnten nicht das geringste Geräusch hören, obwohl er das Ohr an die Tür legte.
Er klingelte noch einmal, diesmal deutlich kräftiger, aber nichts geschah. Sie traten ein paar Schritte zurück auf die hell erleuchtete Straße und warfen einen Blick auf das Haus, aber es war nirgendwo Licht zu sehen. Steve klingelte zur Sicherheit noch einmal, und sie hörten, wie die Klingel im Haus widerhallte. Sie hatten sich gerade umgedreht und wollten wieder gehen, als sich ein Fenster in der unteren Etage öffnete und eine zitternde Frauenstimme fragte, was los sei. Sie fuhren vor Schreck zusammen.
»Sind Sie Sarah Steinkamp?«, fragte Steve, bekam aber keine Antwort. »Entschuldigen Sie, dass wir Sie so früh am Morgen stören, aber die Sache duldet keinen Aufschub.«
»Warum wollen Sie mit ihr sprechen? Wer sind Sie?«
»Es geht um …«, setzte Steve an. »Dürfen wir bitte reinkommen? Ich heiße Steve, das hier ist meine Freundin Kristín. Sie ist Isländerin.«
»Isländerin?«, fragte die schwache Stimme am Fenster. Das 148
Gesicht war in der Dunkelheit nicht zu erkennen.
»Und Sie?«
»Ich bin Amerikaner. Wir brauchen ein paar Informationen.
Würden Sie uns hereinlassen? Sie sind die Witwe von Leo Stiller, nicht wahr?«
»Leo? Was wollen Sie von Leo? Leo ist tot.«
»Das wissen wir. Wir wollen mit Ihnen über Leo sprechen«, sagte Steve und versuchte, so gewinnend zu klingen wie irgend möglich. Es war gerade sieben Uhr morgens.
Sie standen eine ganze Weile vor dem Haus und schauten in das Fenster, konnten aber in der Dunkelheit kein menschliches Wesen darin ausmachen. Sie hatten schon fast alle Hoffnung aufgegeben, als sich plötzlich die Haustür einen kleinen Spalt öffnete und eine kleine, eigentlich schon kleinwüchsige Frau dahinter sichtbar wurde. Die Sicherheitskette klirrte.
»Was ist mit meinem Leo?«, fragte sie und starrte Kristín an.
Ihr Englisch war von dem starken Akzent irgendeiner europäischen Sprache geprägt, den Kristín nicht einordnen konnte, aber am ehesten für slawisch hielt.
»Es hat damit zu tun, dass er Pilot war«, sagte Steve.
»Wir brauchen Informationen über ihn.«
»Was für Informationen? Wovon sprechen Sie?«
»Dürfen wir reinkommen und mit Ihnen sprechen?«, fragte Steve.
»Nein«, sagte die Frau. »Das dürfen Sie nicht.«
»Es ist sehr wichtig für uns, mit Ihnen zu reden«, sagte Kristín und machte einen Schritt nach vorn. »Sie sind Sarah, nicht wahr? Sarah Steinkamp?«
»Wer sind Sie?«, fragte die Frau. »Woher wissen Sie, wie ich heiße?«
»Ich heiße Kristín. Mein Bruder ist in Gefahr. Ein alter Pilot, 149
Michael Thompson, hat uns geraten, mit Ihnen zu sprechen. Sie kennen ihn doch, oder? Er lebt auf der Basis in Keflavík.«
»Ich kenne Thompson«, sagte die Frau. »Er war ein Freund von Leo. Warum ist Ihr Bruder in Gefahr?«
»Wegen eines Flugzeugs«, gab Kristín zur Antwort. »Ihr Mann war Pilot hier bei den amerikanischen Streitkräften, nicht wahr?«
»Ja, Leo war Pilot.«
»Deshalb wollen wir mit Ihnen sprechen«, sagte Kristín und
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