Gletschergrab
angenommen. Meine ganze Familie ist umgekommen. Nur die Bilder sind übrig geblieben. Alles andere ist der Vernichtung anheim gefallen. Unser Nachbar in Budapest hatte sie verwahrt.
152
Leo hat ihn gefunden. Seitdem habe ich die Bilder bei mir.«
»Das sind sehr schöne Fotos«, sagte Kristín.
»Stellen Sie eine Untersuchung über Leo an?«
»Untersuchung? Nein, ganz und gar nicht. Wir brauchen nur ein paar Informationen.«
»Sie haben niemals eine Untersuchung durchgeführt. Es hieß, es sei ein Unfall gewesen. Sie sagten, er habe einen dummen Fehler gemacht. Er machte niemals dumme Fehler. So war mein Leo nicht. Er machte immer alles richtig. Immer. Er hat mir das Leben gerettet. Ich weiß nicht, was aus mir geworden wäre, wenn der Zufall ihn nicht zu mir geführt hätte …« Sie schwieg für einen Augenblick. »Was für Informationen?«, fragte sie dann.
»Es geht um dieses Flugzeug auf dem Vatnajökull.«
»Ja?«
»Hat Leo Ihnen irgendetwas über dieses Flugzeug erzählt?«
»Leo wusste, dass ein Flugzeug auf diesem Gletscher war. Er hat gesagt, es sei von den Nazis.«
Sie starrten die alte Frau fassungslos an.
»Dann ist er umgekommen«, fuhr sie fort.
»Von den Nazis?«, fragte Kristín. »Was meinen Sie damit?
Was hat er damit gemeint?«
»Auf dem Gletscher war ein Naziflugzeug. Das hat Leo gesagt. Dann ist er gestorben. Bei einem Hubschrauberunfall.
Leo war ein ausgezeichneter Pilot. Merkwürdig, dass Sie nach all diesen Jahren vorbeikommen und über ein Flugzeug auf dem Gletscher sprechen wollen. Seitdem hat niemand mehr von diesem Flugzeug gesprochen.«
»Aber es ist nach Ende des Kriegs abgestürzt«, sagte Kristín neugierig.
»Nein«, sagte Sarah, und ihre Augen blitzten. »Es stürzte vor 153
Kriegsende ab.«
»Aber …«, wollte Kristín einwenden.
»Die Nazis wollten sich davonmachen«, sagte die alte Frau.
»Sind alle in ihren Rattenlöchern verschwunden.«
»Thompson sagte, die amerikanischen Soldaten hätten versucht, Gold zu stehlen«, sagte Kristín.
»Natürlich.«
»Hat Leo Ihnen das erzählt?«
»Er wusste, was da gespielt wurde.«
»Was genau hat er gesagt?«, fragte Steve.
»Leo hat deswegen ziemlich viel Staub aufgewirbelt auf der Basis. Wegen des Flugzeugs. Sie wollten es geheim halten, aber mein Leo wollte wissen, was vorging. Er ließ nicht locker. Er konnte diese Geheimniskrämerei nicht ausstehen.«
»Und was passierte, hat man ihm eine Antwort gegeben?«, fragte Steve.
»Ganz und gar nicht. Das Flugzeug kam aus dem Eis und verschwand wieder.«
»Was haben Sie gesagt?«
»Leo meinte, der Gletscher wäre so. Er sagte, die Maschine habe sich in den Gletscher gegraben und sei dann wieder nach oben gekommen.«
»War das 1967?«
»Ja, 1967.«
»Warum glaubte Leo, dass das Flugzeug von den Nazis sei?
Was meinte er mit Nazis?«
»Wissen Sie nicht, wer die Nazis waren?«, fauchte die alte Frau plötzlich, und ihr Gesicht bekam einen harten Zug. »Ist das alles schon wieder vergessen? Als hätte es sie nie gegeben?«
Kristín und Steve sahen sich an.
»Diese Mörder«, brach die alte Frau das Schweigen, und 154
Kristín konnte den schneidenden Schmerz in der Stimme hören.
»Diese verfluchten Mörder!«
Kristín stand auf. Ein Schauer lief ihr den Rücken hinunter, als ihr alles klar wurde. Die Bilder. Budapest. Steinkamp.
»Bitte entschuldigen Sie …?«
»Man darf die Nazis nie vergessen«, sagte die alte Frau, und ihre Augen blitzten, während sie vor ihren Familienbildern mit den dicken schwarzen Rahmen stand. »Sie haben meine ganze Familie ermordet. Haben sie in Öfen verbrannt. Haben unsere Kinder ermordet. So waren die Nazis. Vergessen Sie das nie.«
»Wollen Sie damit sagen, dass Sie …?«
»Wer sind Sie?«, fragte die alte Frau auf einmal abweisend und schien sich wieder zu sammeln. »Wer sind Sie? Ich kenne Sie überhaupt nicht. Gehen Sie jetzt bitte.«
»Warum glaubte Leo, das Flugzeug stamme von den Nazis?«, fragte Steve.
»Lassen Sie mich um Gottes willen in Frieden«, sagte die Frau. »Lassen Sie mich einfach in Frieden. Gehen Sie, und lassen Sie mich in Frieden.«
Sie sahen sich an, und Kristín bedeutete Steve, dass es jetzt genug sei. Sie verabschiedeten sich von der alten Frau. Sie stand am Klavier und blickte ihnen nach, wie sie sich umdrehten und zur Tür gingen. Sie schlossen sie sorgfältig hinter sich und waren auf eine eigentümliche Weise froh, wieder draußen in der winterlichen Kälte zu
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