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Gletschergrab

Gletschergrab

Titel: Gletschergrab Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnaldur Indridason
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stand jetzt direkt vor der Tür. Sie konnte die Frau nun deutlicher sehen, das lange graue Haar, die Falten im Gesicht, die magere Gestalt mit gebeugtem Rücken, die einen zerschlissenen braunen Bademantel übergeworfen hatte. Sie hatten sie frühmorgens in ihrer Nachtruhe gestört, aber Kristín bekam das Gefühl, als hätten sie ihr noch etwas anderes, Schlimmeres angetan. Sie zögerte. Sie fühlte sich unbehaglich, als sie der Frau direkt gegenüberstand, die halb hinter der Tür verborgen war, und schaute sich nach Steve um.
    »Was für ein Flugzeug?«, wiederholte die Frau.
    »Ein Flugzeug oben auf dem Vatnajökull«, sagte Kristín.
    »Auf dem Vatnajökull?«, fragte die kleinwüchsige Frau verwundert.
    »Ja«, gab Kristín zurück.
    »Haben Sie wirklich Flugzeug auf dem Vatnajökull gesagt?«
    »Mein Bruder hat ein Flugzeug auf dem Gletscher gesehen, dann brach die Verbindung ab. Soldaten hat er dort auch gesehen.«
    Die alte Frau blickte von einem zu anderen.
    »Kommen Sie herein«, sagte sie leise, schob die Sicherheitskette zurück und öffnete die Tür. Kristín zögerte einen Augenblick, dann trat sie ins Haus, gefolgt von Steve. Sie betraten das Treppenhaus, von dem die beiden Wohnungen 150

    abgingen. Die Treppe führte zur oberen Wohnung, während die Wohnung der alten Frau ebenerdig vom Ende des Flurs abging.
    Drinnen war es heiß und stockdunkel. Kristín verlor die Frau aus den Augen, als sie in die Dunkelheit eintauchte. Sie wagte nicht, sich zu bewegen, und starrte in die Wohnung. Sie meinte, eine Bewegung zu erkennen, als plötzlich das Schaben eines Streichholzes zu vernehmen war und die Flamme einen Augenblick lang das Gesicht der Frau erleuchtete. Sie zündete Kerzen an. In der ganzen Wohnung waren unzählige Kerzen verteilt, die die Frau eine nach der anderen anzündete. Sie tauchten das Wohnzimmer in ein weiches, flackerndes Licht.
    Kristín registrierte ein Klavier und eine Geige, Familienbilder an der Wand und auf den Ablageflächen, eine alte, zerschlissene Sofagarnitur und flauschige Teppiche auf dem Boden. Die Frau bot ihnen einen Platz an, blieb aber selbst neben dem Klavier stehen.
    »Ich komme mir vor wie Gretel«, flüsterte Kristín Steve ins Ohr.
    »Und ich wie Hänsel«, flüsterte Steve. »Hoffentlich steckt sie uns nicht in den Ofen.«
    »Bitte entschuldigen Sie unser unhöfliches Benehmen«, sagte Kristín zu der Frau, als sie die Wohnung besser sehen konnte.
    »Wir hatten keine andere Wahl. Wir werden Sie nicht lange stören.«
    »Ich verstehe nicht, was Sie mit Leo zu tun haben«, sagte die Frau.
    »Das ist zu kompliziert, um es zu erzählen«, sagte Steve.
    »Er ist seit mehr als dreißig Jahren tot«, sagte die Frau.
    »Dreißig Jahre?«.
    »Seit er starb.«
    »Wie ist er gestorben?«
    »Er ist bei einem Hubschrauberunfall auf der Basis 151

    umgekommen. Angeblich menschliches Versagen, mehr wurde mir nicht gesagt. Der Vorfall ist niemals untersucht worden, aber ich hege meine Zweifel daran. Ein Jahr später bin ich von der Basis nach Reykjavik gezogen. Ich beziehe eine Witwenrente vom Militär.«
    »Was ist passiert?«, fragte Kristín.
    »Leo war ein außergewöhnlich fähiger Pilot«, erzählte die Frau, und das schwache Licht der Kerzen umspielte ihr Gesicht.
    Sie war einmal eine hübsche, zarte junge Frau gewesen, aber Kristín spürte, dass das Leben ihr übel mitgespielt hatte. Das Alter hatte seine Spuren in ihrem Gesicht hinterlassen, und der Blick ihrer Augen ließ auf ein schwieriges Leben schließen. Sie war vermutlich um die achtzig. Kristín betrachtete die Familienfotos an den Wänden und auf dem Klavier. Sie waren alt und sahen aus, als stammten sie aus der ersten Hälfte des 20.
    Jahrhunderts. Die Bilder steckten in dicken schwarzen Rahmen und zeigten lauter Erwachsene, viele davon alt. Es gab keine Kinder auf den Bildern und keine jüngeren Fotos. Keine Farbfotos. Nur alte Schwarzweißbilder von Männern und Frauen, die in ihrer Sonntagskleidung beim Fotografen posierten. Die Frau registrierte, wie Kristín die Bilder betrachtete.
    »Sie sind alle schon lange tot«, sagte sie. »Alle miteinander.
    Deshalb gibt es keine jüngeren Bilder. Und die Rahmen sind Trauerrahmen. Reicht Ihnen das?«
    »Entschuldigen Sie bitte«, sagte Kristín. »Ich wollte nicht aufdringlich sein.«
    »Leo war der Meinung, ich sollte meinen Mädchennamen behalten. Steinkamp. So war Leo. Er war Jude wie ich. Wir sind uns nach dem Krieg in Ungarn begegnet, und er hat sich meiner

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