Gletschergrab
Sie war sofort tot.
Das alles ging Kristín durch den Kopf, als sie in ihrem Büro im Außenministerium stand und von einem ihr unbekannten Mann erfuhr, in welchem Zustand Elías sich befand. Von Sarah Steinkamp aus waren sie direkt dorthin gegangen, zu Fuß hatten sie kaum zehn Minuten dafür gebraucht. Sie ließ den Telefonhörer sinken, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Sie blickte zu Steve hinüber, der zu ihr kam und sie in die Arme nahm. Sie hatte seit mehr als vierundzwanzig Stunden nicht geschlafen. An ihrem Ohr und ihrer Wange klebte immer noch getrocknetes Blut. Das alte Schuldbewusstsein holte sie wieder ein.
»Sie glauben nicht, dass er es überleben wird«, sagte sie tonlos.
Steve übernahm den Telefonhörer und stellte sich Júlíus vor, dem Leiter der Übung auf dem Gletscher. Kristín hatte vom Büro aus seine Handynummer gewählt, um sich nach ihrem Bruder zu erkundigen. Es war noch früh am Morgen und das Ministerium noch menschenleer. Der Nachtwächter, der Kristín kannte, ließ sie herein. Sie hatten nicht vor, sich lange dort aufzuhalten.
Kristín bekam die ganze Wahrheit zu hören. Sie hatten die schlimm zugerichtete Leiche Jóhanns in der Gletscherspalte gefunden. Elías war ebenfalls in die Spalte gestürzt, zeigte aber noch Lebenszeichen. Júlíus sah keinen Grund zu verheimlichen, dass Elías den Sturz vermutlich nicht überleben würde. Er war sehr schwer verletzt. Sie waren auf dem Weg zurück zum 169
Basiscamp und erwarteten dort in Kürze den Rettungshubschrauber. Sie wussten nicht, ob sie das Camp erreichen würden, bevor der Sturm hereinbrach.
»Konnte Elías irgendetwas über den Unfall sagen?«, fragte Steve.
»Er hat den Namen seiner Schwester gesagt, sonst nichts«, erklärte Júlíus.
Kristín hatte sich wieder etwas gefangen und nahm Steve den Hörer aus der Hand.
»Elías hatte keinen Unfall«, sagte sie. »Irgendwo auf dem Gletscher sind amerikanische Soldaten mit einem ihrer Flugzeuge. Als Elías und Jóhann sie überrascht haben, wurden sie gefangen genommen und in diese Gletscherspalte geworfen.«
»Weißt du, wo auf dem Gletscher sie sich aufhalten?«, fragte Júlíus, und Kristín hörte das Pfeifen des Windes durchs Handy.
Er war auf einem Motorschlitten unterwegs und musste ins Handy brüllen.
»Wir glauben, dass sie auf dem südöstlichen Teil des Gletschers sind. Wir haben mit einem alten Piloten gesprochen, der das Gebiet früher mit Aufklärungsflügen überwacht hat. Ich werde versuchen, dorthin zu gelangen. Ich weiß nicht, mit wie viel Unterstützung wir rechnen können. Uns ist zu Ohren gekommen, dass es sich um eine Verschwörung handeln soll.
Der amerikanische Militärgeheimdienst kontrolliert den Stützpunkt auf Miðnesheiði und die Botschaft in Reykjavik. Ob die isländischen Politiker auch darin verwickelt sind, wissen wir nicht. Die Polizei sucht wegen eines Mordes nach mir, den man mir anhängen will, sodass ich mich kaum an sie wenden kann.«
»Mord?«
»Das ist eine lange Geschichte. Die Hauptsache ist: Kann ich auf eure Hilfe zählen, wenn wir auf den Gletscher kommen?
Wenn wir diese Soldaten und dieses Flugzeug finden, seid ihr 170
dann in unserer Nähe?«
»Darauf kannst du dich verlassen. Aber, Kristín …«
»Was?«
»Das ist ein verdammt großer Gletscher.«
»Das weiß ich. Wie groß ist eure Mannschaft?«
»Wir sind an die siebzig Leute. Wir müssen zusehen, dass Jóhann und Elías nach Reykjavik gebracht werden, und dann suchen wir diese verdammten Soldaten. Wie wollt ihr auf den Gletscher kommen?«
»Keine Ahnung.«
»Wir warten nur noch auf den Militärhubschrauber, der Jóhann und Elías holen soll …«
»Warum habt ihr euch nicht an die isländische Küstenwache gewandt?«
»Deren Hubschrauber ist im Einsatz.«
»Júlíus, ich bin mir nicht sicher, ob ihr im Moment Hilfe von den amerikanischen Streitkräften erwarten könnt. Dort haben jetzt andere Männer das Kommando, und ich bezweifle, dass sie irgendjemanden auf dem Gletscher Beistand leisten, so wie die Sache im Augenblick aussieht.«
»Die im Camp haben sich darum gekümmert. Ich weiß nicht, was dort in Keflavík vor sich geht. Ich habe einen Mann verloren. Was den anderen angeht, ich muss es sagen, wie es ist, Kristín: Elías’ Leben hängt an einem seidenen Faden. Über uns bricht gerade ein fürchterliches Unwetter herein. Jetzt sagst du, dass ich nicht die Hilfe bekomme, die ich brauche, weil irgendein Geheimdienst unten die Basis
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