Gletschergrab
mir nichts davon angesehen.«
»Sammle alle Papiere ein, Taschen, Bücher, Pässe, Namen, jedes Schriftstück, das du im Flugzeug findest. Verwahre die Sachen gut, Ratoff, zeig sie niemandem und bring sie mir.
Überbring mir den ganzen Kram. Jeden Schnipsel.«
»Selbstverständlich.«
»Ratoff. Du würdest dir selber einen großen Gefallen tun, wenn du nicht in den Papieren schnüffeln würdest. Wir sind das alles schon einmal durchgegangen. Folge dem Plan, so wie er dir unterbreitet worden ist.«
»Du hast mir immer vertrauen können.«
»Wann wirst du in Keflavík ankommen?«
»Wir werden vor Ablauf von zwei Tagen abfliegen können, wenn uns der Sturm nicht aufhält.«
»Ausgezeichnet.«
Sie beendeten das Gespräch. Ratoff betrachtete die 163
Aktentasche, die Karte und die Notizbücher, die er neben sich auf einen Stuhl gelegt hatte. Er hatte viele Geschichten über die geheimnisvolle Fracht des Flugzeugs gehört, aber als ihm klar wurde, dass es sich ausschließlich um Papiere handelte, schien alle Spannung, alle Erwartung von ihm abzufallen. Es war kein Gold. Keine Bombe. Keine biologische Waffe. Es ging nicht um einen der verschwundenen Nazikriegsverbrecher, soweit er hatte sehen können. Keine Kunstwerke. Kein Diamantenschatz. Nur Papiere. Elender Papierkram. Verdammter elender Papierkram!
Papierschnipsel!
Als die größte Verblüffung gewichen war, nahm er die Dokumente mit in sein eigenes Zelt. Dort standen ein Feldbett, ein Stuhl und ein kleiner Kunststoffschreibtisch, an den er sich setzte. Er studierte zuerst das Logbuch und rekonstruierte, wann und wo das Flugzeug gestartet war und wie die berechnete Route aussah. Er öffnete das Notizbuch mit dem roten Einband, blätterte darin und sah, dass der Pilot Tagebuch geführt hatte, solange er oben auf dem Gletscher am Leben gewesen war. Er legte es zur Seite, öffnete die Aktentasche und nahm drei Mappen heraus, die mit weißen Kordeln zugebunden waren. Er öffnete die erste und blätterte schnell durch die Dokumente. Sie waren auf Deutsch. In der zweiten Mappe fand er ähnliche Dokumente. Er konnte den einen oder anderen Brocken Deutsch, aber nicht genug, um genau zu verstehen, was in den Dokumenten stand.
Er öffnete die dritte Mappe und fand dort einige Dokumente, die als vertraulich gekennzeichnet waren. Sie waren alle auf Englisch. Darunter befand sich ein nicht unterzeichnetes Gedächtnisprotokoll. Ratoff vertiefte sich in die Unterlagen. Er überflog sie rasch, und langsam wurde ihm klar, worum es dort ging. Er stand unwillkürlich auf, ohne den Blick von den Papieren zu wenden. »Kann das sein?«, flüsterte er leise vor sich hin. Er schüttelte den Kopf. »Was für ein Wahnsinn!« Er hörte auf zu lesen und starrte fassungslos auf die Papiere, die 164
Aktentasche, die Pässe, das Tagebuch. Er brauchte eine ganze Weile, um die Informationen zu verarbeiten und sie mit dem in Zusammenhang zu bringen, was er bereits wusste. Er betrachtete die Namen, die dort standen. Er studierte noch einmal die Unterschriften. Er kannte sie.
Plötzlich verstand er die Bedeutung des Flugzeugs. Er verstand, weshalb das Militär es jahrzehntelang gesucht hatte.
Langsam fügte sich in seinem heftig arbeitenden Hirn das ganze Puzzle zusammen. Er verstand die Lügen. Er verstand all die irreführenden Informationen, die verbreitet worden waren.
Als Ratoff schließlich die Wahrheit in ihrem vollen Umfang klar wurde, zog er eine Grimasse. Wenn es der Wahrheit entsprach, was in den Dokumenten geschrieben stand, und diese militärische Operation nur auf die Beine gestellt worden war, um dieses Geheimnis zu wahren, befand er sich selber in tödlicher Gefahr. Sie würden ihn bei der ersten Gelegenheit aus dem Weg räumen. Das hätten sie auf jeden Fall getan, ob er die Dokumente gelesen hätte oder nicht. Als er ihn losgeschickt hatte, hatte Carr gewusst, dass er sich sein eigenes Grab schaufelte, wenn die Operation gelang. Er lächelte über die Ironie des Schicksals. An ihrer Stelle hätte er dasselbe getan. Er blickte wieder auf die Dokumente und schüttelte den Kopf.
Eine scharfe Bö rüttelte am Zelt und schreckte Ratoff aus seinen Gedanken auf. Der Sturm zerrte und riss am Zelt, das hin und her schlug. Als Ratoff nach draußen trat, konnte er die Hand nicht mehr vor Augen sehen.
Carr sah, wie der Gletscher vom Monitor verschwand. Er konnte sich vorstellen, was Ratoff jetzt gerade tat. Wenige kannten den Leiter der Operation besser als er. Er verließ den
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