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Gletschergrab

Gletschergrab

Titel: Gletschergrab Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnaldur Indridason
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kleinen Raum, ging mit schweren Schritten durch den Kontrollraum und über den Flur in sein Büro. Er schloss die Tür sorgfältig hinter sich, setzte sich an den Schreibtisch und hob den Telefonhörer hoch.
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    Die Zeit für den nächsten Schritt war gekommen.
    Er bat um Buenos Aires.
    Dann orderte er eine Maschine nach Island.
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    Kristín hatte auf ihren Bruder aufgepasst, seit er auf die Welt gekommen war. Damals war sie zehn Jahre alt und hatte sich sofort sehr für das Kind interessiert, mehr als ihre Eltern. Sie konnte sich erinnern, dass sie sich einen kleinen Bruder gewünscht hatte. Obwohl das eigentlich keine Rolle spielte. Vor allem hatte sie sich nach einem Geschwisterchen gesehnt. Sie langweilte sich als Einzelkind und beneidete ihre Freunde. Die hatten alle einen Haufen Brüder und Schwestern. Bei ihr zu Hause herrschte Ruhe, Stille und Frieden. Ihre Eltern vertrugen keinen Lärm. Sie wollten nicht gestört werden. Sie arbeiteten beide viel, nahmen ihre Arbeit sogar mit nach Hause, sodass sie nicht viel Zeit für Kristín hatten. Sie lernte, sich still zu verhalten und allein klarzukommen. Lernte, ihre Eltern nicht zu stören.
    Im Nachhinein konnte sie nicht begreifen, wieso die beiden Elías bekommen hatten. Manchmal erwähnte sie das Elías gegenüber, als sie beide älter und reifer wurden. Elías musste für ihre Eltern vollkommen unerwartet gekommen sein. Wenn er laut war, spürte Kristín oft, wie sehr er seinen Eltern auf die Nerven ging. Es war, als bereuten sie die Zeit, die sie für ihre Kinder aufwenden mussten. Als ob ihre Kinder ihnen zur Last fielen. Als sich Kristín der Vernachlässigung bewusst wurde, schloss sie sich noch enger an ihren Bruder an. Sie wurden von ihren Eltern nie misshandelt, nie geschlagen oder hart bestraft.
    Die schlimmste Strafe war, dass die Gleichgültigkeit ihrer Eltern sich noch verstärkte, wenn sie oder ihr Bruder etwas angestellt hatten, die Stille zu Hause noch tiefer wurde. Ruhe, Stille und Frieden.
    Obwohl Kristín früh gelernt hatte, ihre Eltern richtig zu nehmen, indem sie mucksmäuschenstill durchs Haus schlich, 167

    nicht störte und auf sich selber aufpasste, lernte Elías das nie. Er war laut, machte Ärger und heischte ständig nach Aufmerksamkeit. Hyperaktiv, sagten die Eltern. Die ersten drei Monate, nachdem er aus dem Krankenhaus nach Hause gekommen war, weinte er unablässig, und manchmal weinte Kristín mit ihm. Sie spürte die Anspannung ihrer Eltern. Als Elías älter wurde, verschüttete er ständig Milch, warf seine Suppentasse um, stieß mit seinem Spielzeug gegen die Stereoanlage oder machte etwas kaputt. Kristín übernahm früh die Verantwortung für ihn, lief ihm mit einem Lappen hinterher und versuchte zu verhindern, dass er etwas anstellte. Im Konfirmationsalter kümmerte sie sich bereits ganz und gar um ihn. Bevor sie zur Schule ging, brachte sie ihn in den Kindergarten. Nach der Schule holte sie ihn ab, ging mit ihm nach Hause, kochte ihm etwas und spielte mit ihm. Sie achtete darauf, dass er rechtzeitig ins Bett kam. Las ihm vor. Manchmal kam es ihr so vor, als sei er ihr Kind. Vor allem kümmerte sie sich darum, dass der Frieden im Haus nicht gestört wurde, achtete darauf, dass ihre Eltern nicht von ihnen gestört wurden.
    Dafür trug sie die Verantwortung.
    Viel später erst kam sie dahinter, was hinter dem Desinteresse und der Vernachlässigung steckte. Die Anzeichen bemerkte sie damals schon, konnte sie aber erst einordnen, als sie älter wurde.
    Sie fand unbekannte Flaschen an den merkwürdigsten Orten, mit klaren oder farbigen Flüssigkeiten gefüllt oder halb leer. Sie fand sie im Kleiderschrank, im Badezimmerschränkchen, unter den Betten ihrer Eltern. Sie ließ sie in Ruhe. Ließ sie immer in ihren Verstecken. Sie verschwanden wie von Zauberhand von selbst.
    Andere Hinweise beunruhigten sie mehr. Ihr Vater verschwand oft wochenlang auf Dienstreisen, und nicht selten lag er tagelang krank im Bett. Ihre Mutter war manchmal in einem völlig apathischen Zustand. Sie meinte, Dinge zu sehen, die kein anderer sah. Das kam nicht häufig vor, und Kristín 168

    lernte, damit zu leben, so wie Elías später auch.
    »Ich wünschte, wir könnten uns mehr um euch kümmern«, sagte ihre Mutter einmal zu Kristín, und sie spürte wieder diesen eigentümlichen Geruch, der von ihrer Mutter ausging. »Weiß Gott, wir tun unser Bestes.«
    Sie war betrunken, als sie mit neunzig Stundenkilometern gegen einen Laternenpfahl raste.

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