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Gletschergrab

Gletschergrab

Titel: Gletschergrab Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnaldur Indridason
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Kopf. Wie immer würden letztlich die wirtschaftlichen Interessen den Ausschlag geben. Nach ein paar Wochen würde kein Hahn mehr danach krähen, ob Militäreinheiten auf dem Gletscher gewesen waren oder nicht.
    Die einzig wirkliche Gefahr stellte diese Frau dar, Kristín, aber wer würde ihr schon glauben, wenn die Junkers erst außer Landes war? Wer würde ihrem Geschwätz über ein deutsches Flugzeug aus dem Zweiten Weltkrieg glauben, das vom Gletscher geschluckt worden war, dort ein halbes Jahrhundert gelegen hatte und etwas Gefährliches, Unglaubliches und Bizarres in sich barg. Carr war überzeugt davon, dass sie nicht wusste, was es war. Sie konnte es nicht wissen. Sie waren über jeden ihrer Schritte informiert, wussten, mit wem sie gesprochen hatte, bevor sie auf den Gletscher ging, und nichts deutete darauf hin, dass sie bis zur Wahrheit vorgedrungen war. Also konnte sie im Grunde genommen gar keinen großen Schaden anrichten.
    Er dachte an den Mann, der bei dieser Operation das Kommando hatte, und überlegte, ob es ein Fehler gewesen war, 259

    Ratoff mit dieser Aufgabe zu betrauen. Ratoff war bekannt dafür, die Dinge konsequent zu Ende zu führen, aber dies forderte immer unnötig viele Opfer. Carr hatte ihn persönlich Anfang der siebziger Jahre in den militärischen Geheimdienst aufgenommen, und er hatte sich bewährt. Keiner, der mit Ratoff zusammengearbeitet hatte, mochte ihn. Er war ein Mann, mit dem niemand in Verbindung gebracht werden wollte, von dem niemand etwas wissen wollte. Mit der Zeit wurde er zu einer legendären Figur innerhalb der Organisation, um die sich alle möglichen Geschichten rankten, für die es nie eine Bestätigung gab und von denen die meisten auch nichts wissen wollten. Carr wusste nur wenig über seinen Hintergrund, bevor er in den Geheimdienst eingetreten war. 1968 hatte er sich zur Marineinfanterie gemeldet und war drei Jahre in Vietnam gewesen. Als er von dort zurückgekehrt war, hatte Carr ihn zum ersten Mal getroffen. Damals trug er bereits die Narbe im Gesicht, für die er eine ganz einfache Erklärung abgab. Er hatte einen Gewehrschaft zwischen Tür und Angel geklemmt, ein Schuss war losgegangen, der ihn ins Gesicht traf. Die Arzte hielten es für ein Wunder, dass er das überlebt hatte, ohne dass Schlagadern, Gehirn oder Rückenmark in Mitleidenschaft gezogen worden waren. Als einzige Beeinträchtigung behielt er eine heisere Stimme zurück. Carr delegierte einen Mann, um diese Geschichte zu verifizieren, aber als dieser sich unter Ratoffs Kameraden umhörte, kam ihm eine ganz andere Variante zu Ohren. Ratoff war sadistisch veranlagt und ging so brutal und skrupellos vor wie kein anderer, um dem Feind Informationen zu entlocken, sogar wenn er genau wusste, dass gar keine Informationen zu haben waren. Er hatte aus purem Sadismus Menschen verstümmelt und tötete zu seinem eigenen Vergnügen. Es hieß, dass er Körperteile seiner Opfer sammelte, obwohl man keine Beweise dafür hatte. Die Wunde war ihm durch eine junge Vietnamesin zugefügt worden, die ihm seine Pistole entwenden konnte und ihn zwang, vor ihr 260

    niederzuknieen. Sie schoss ihm aus kurzer Entfernung ins Gesicht und beging anschließend Selbstmord.
    Ratoff hatte sich in den siebziger Jahren in Südamerika große Verdienste um den Geheimdienst erworben. Er war in El Salvador gewesen, in Nicaragua, aber auch in Chile und Guatemala. Er hatte sich immer im Umfeld der amerikanischen Beraterteams bewegt, die den Diktatoren mit Rat und Tat zur Seite standen. Als sich die amerikanische Regierung wegen des starken innenpolitischen Drucks gezwungen sah, ihre Unterstützung der Diktaturen einzuschränken, wurde Ratoff abgezogen und im Mittleren Osten eingesetzt. Dort machte er wie gewohnt weiter und sammelte Informationen mit Methoden, von denen Carr lieber nichts wissen wollte. Er hielt sich im Libanon auf und arbeitete zeitweilig mit dem israelischen Geheimdienst Mossad zusammen. Offiziell gab es im Geheimdienst keinen Ratoff. Carr war einer der ganz wenigen, die von seiner Existenz wussten. Das war einer der Gründe, weshalb er ihn für diese Operation ausgewählt hatte. Niemand würde ihn vermissen.
    Ein eisiger Wind umwehte Carr, während er beim Hangar stand und überlegte, was für ein Völkchen das war, das es sich nicht nehmen ließ, hier in diesem kalten und dunklen Land auszuharren. Er hörte den Mann nicht, der sich näherte, hörte nicht, was er sagte, und bemerkte ihn erst, als dieser sich

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