Gletschergrab
darüber nachgedacht, was sie mit Napoleon gemacht haben?«
»Oft genug.«
»Was kannst du mir darüber sagen?«
»Eine Menge.«
»Und was bedeutet also Napoleon?«
»Du weißt, wofür er berühmt war«, stöhnte sie.
»Er war ein großer Kaiser«, sagte Ratoff, »und ein großer Feldherr.«
»Nein, nein, nichts von alledem«, sagte Kristín.
»Was dann?«
»Er war so klein.«
»Was meinst du damit?«
»So kleinwüchsig. Ein richtiger Zwerg.«
»Ich verstehe nicht, was du meinst.«
»Napoleon ist dieser winzige Pimmel, der bei dir da vorne runterhängt«, fauchte Kristín und versuchte, ihn wieder anzuspucken. Sie bereitete sich auf eine neue Welle des Schmerzes vor, die aber nicht kam. Sie schauten sich in die 267
Augen, und Ratoffs Mund zog sich zu einem noch dünneren Strich zusammen. Er riss den Stechbeitel aus der Wunde, und das Werkzeug verschwand augenblicklich.
»Spielt keine Rolle«, sagte er und zog eine Pistole hervor. »Ich möchte dir aber eine schöne Erinnerung hinterlassen. Es hätte nicht so kommen müssen. Du hättest ihn retten können. Denk daran, immer. Das hier ist deine Schuld.«
Er drehte sich um und schoss Steve in den Kopf. Unvermittelt und ohne Warnung. Die Kugel drang knapp unter dem rechten Auge ein und riss ein riesiges Loch an der Austrittsstelle am Hinterkopf. Steve brach mit weit aufgerissenen Augen zusammen. Kristín starrte wie in Trance auf das, was sich vor ihren Augen abspielte. Sie sah, wie Steve auf das Eis sank, die toten Augen starr auf sie geheftet. Sie sah, wie sich die Zeltplane rot färbte. Sie sah, wie das Eis unter seinem Kopf das Blut aufsaugte.
Galle stieg ihr bis in den Mund und brannte wie Feuer. Von Würgekrämpfen geschüttelt, brach sie zusammen.
Dann verlor sie das Bewusstsein.
Das Letzte, was sie sah, waren Steves gebrochene Augen.
Das Letzte, was sie hörte, war Ratoffs Stimme.
Das ist deine Schuld.
Das ist deine Schuld.
268
34
Kurz bevor Júlíus gefangen genommen wurde, sah er, wie eine Frau und ein Mann in eines der Zelte geführt wurden. Er ging davon aus, dass es sich bei der Frau um Kristín handelte.
Nachdem die Soldaten die Rettungsmannschaft mit der Maschinengewehrsalve gestoppt hatten, griffen sie nicht mehr an, sondern sorgten nur dafür, dass die Mannschaft nicht weiter vordringen konnte. Sie hatten das gesamte Kommunikationsequipment der Gruppe an sich genommen und alles und alle gründlich durchsucht, Menschen, Raupenfahrzeuge und Motorschlitten, bis sämtliche Signalraketen, Funkgeräte und NMT-Handys sichergestellt waren. Die Rettungsmannschaft hatte sich um die Raupenfahrzeuge geschart und wartete ab. Niemand wagte gegen die Soldaten vorzugehen. Niemand wollte ihnen auch nur den geringsten Anlass geben, wieder zu den MPs zu greifen. Für die Soldaten schien die Sache damit abgetan zu sein, die Gruppe gestoppt zu haben und sie am Weitergehen zu hindern.
Júlíus setzte sich in dem hinteren Raupenfahrzeug ganz hinten an die Tür. Nach einiger Zeit kehrte etwas Ruhe ein, und der Rettungsmannschaft schien es, als ließe die Anspannung der Soldaten etwas nach. Júlíus öffnete die Tür und ließ sich aus dem Fahrzeug gleiten. Er blieb eine Weile im Schnee unter dem Auto liegen, ohne sich zu rühren. Er hörte, wie die Soldaten sich unterhielten, konnte aber nicht verstehen, was sie sagten. Nach etwa zehn Minuten kroch er los, weg von dem Fahrzeug und zwischen zwei Motorschlitten hindurch in die Dunkelheit.
Sobald er sich in Sicherheit glaubte, blickte er sich um und sah, dass niemand ihn bemerkt hatte. Er stand auf, machte einen großen Bogen um die Soldaten herum und achtete darauf, sich weit genug entfernt zu halten, damit ihn die Dunkelheit 269
verhüllte.
Júlíus war nicht gewillt, sich von irgendwelchen Amis von der Basis herumkommandieren zu lassen, Amis, die seine Freunde misshandelten und umbrachten. Die ihm verbieten wollten, sich in seinem Land frei zu bewegen, und ihn mit Gewehrsalven aufhielten. Die ihn bedrohten und filzten und ausplünderten. Er war nicht gewillt, sich von ihnen etwas vorschreiben zu lassen und zu kapitulieren. Außerdem verließ sich Kristín darauf, dass er kam. Zwar konnte er auf sich allein gestellt nicht viel ausrichten, aber er wollte unbedingt herausbekommen, was diese Militäreinheiten auf dem Gletscher trieben. Falls er später einmal als Zeuge Kristíns Aussage stützen konnte, war damit auch etwas gewonnen.
Sobald Júlíus Abstand von den Soldaten gewonnen hatte, legte er
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