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Gletschergrab

Gletschergrab

Titel: Gletschergrab Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnaldur Indridason
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Uniformmütze, an deren Vorderseite sich ein Hakenkreuz befand. Als Kristín die Plane mit dem Fuß noch ein Stück weiter zu sich heranzog, kam ein Antlitz unter der Mütze zum Vorschein. Sie starrten sprachlos auf die Leiche.
    Es war ein Mann mittleren Alters, und Kristín hatte fast den Eindruck, als schliefe er dort, leichenblass und fast so durchsichtig wie das Eis.
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    Sie schraken beide zusammen, als sie eine heisere Stimme hinter sich hörten.
    »Schöner Anblick, nicht wahr? Man könnte glauben, er sei erst vor einer Woche krepiert, nicht mehr.«
    Ratoff hatte das Zelt betreten, und Simon folgte ihm auf dem Fuß. Kristín erkannte in ihm sofort den Mann wieder, der schon zweimal versucht hatte, sie umzubringen, erst in ihrer Wohnung, später in der Innenstadt. Trotzdem hatte sie ein noch unangenehmeres Gefühl, jetzt endlich Ratoff gegenüberzustehen. Sie hatte sich ein ganz bestimmtes Bild von ihm gemacht, das aber keinerlei Ähnlichkeit mit dem Mann hatte, der jetzt vor ihr stand. Er war so kleinwüchsig, dass sie beinahe laut losgelacht hätte, denn sie hatte sich einen Hünen von mindestens zwei Metern vorgestellt. Selbst durch die dicke Vermummung hindurch konnte man sehen, dass der Mann spindeldürr war. Einen Augenblick überlegte sie, ob er womöglich an einer unheilbaren Krankheit litt. Die knochigen Gesichtszüge waren vermutlich slawisch. Er war hohlwangig, und über den vorstehenden Knochen spannte sich die Haut. Die Nase war schmal und gerade, die Augen klein, scharf und tiefliegend. Als er näher kam, sah sie, dass die Pupillen von einem weißen Ring umgeben waren. Die kleinen Ohren lagen eng am Kopf an, der Mund war ein schmaler Strich, als wollte er Ratoffs Grausamkeit und Erbarmungslosigkeit noch unterstreichen. Unter dem linken Auge befand sich eine Narbe, die Kristíns ganze Aufmerksamkeit auf sich zog. Sie konnte nicht umhin, sie anzustarren, sie konnte ihre Augen einfach nicht abwenden. Die Narbe war kreisförmig wie eine winzige Sonne, von der aus Furchen die Wange durchzogen.
    »Du bist nicht die Erste«, sagte er und kratzte sich mit dem Zeigefinger an der Narbe.
    »Hoffentlich war es qualvoll«, sagte Kristín.
    »Ein Unfall«, sagte Ratoff. »Eine Gewehrkugel, die ging 254

    vorne rein und kam hinter dem Ohr wieder raus. Habe dadurch ein bisschen die Stimme verloren, mehr nicht.«
    »Zu schade, dass sie dich nicht umgebracht hat«, sagte Kristín.
    »Viel hat nicht gefehlt. Suchst du nach deinem kleinen Bruder? Zu spät, um ihm zu Hilfe zu kommen, fürchte ich.«
    »Sei dir da nur nicht zu sicher. Er war noch am Leben, als ich zuletzt Nachrichten bekommen habe. Es steht auf der Kippe, aber wenn ein Dreckskerl wie du eine Gewehrkugel in seiner Affenvisage überleben kann, ist vielleicht nicht alle Hoffnung verloren.«
    Ratoff schwieg eine Weile.
    »Isländische Frauen«, sagte er und blickte dann auf Steve.
    »Davon habe ich gelesen. Die treiben es gerne mit Ausländern.«
    »Mörder«, zischte Kristín und trat einen Schritt vor.
    Der gerade Strich, der Ratoffs Mund darstellte, verzog sich ein wenig.
    »Spielt doch keine Rolle«, sagte er. »Wir sind hier fertig, und das Beste ist, dass wir nie hier gewesen sind.«
    »Alle wissen Bescheid. Wir haben allen möglichen Leuten von dir und dem Flugzeug hier auf dem Gletscher erzählt. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis es hier auf dem Gletscher nur so wimmeln wird von gut informierten Leuten, und die kannst du nicht alle in Gletscherspalten werfen.«
    »Deswegen sind wir ja auch in Eile. Schade, dass ich mir nicht noch ein bisschen Spaß mit euch machen kann. Simon kriegt immer das Beste vom Kuchen.«
    »Simon!«, rief Kristín. »Dieses Schwein hat also einen Namen.«
    Simon bewegte sich nicht, aber Ratoff trat an Kristín heran, und sie wich einen Schritt zurück. Sein Gesicht berührte fast das ihre, und sie schaute tief in die kleinen Augen, in denen sie nichts als kalte Bösartigkeit entdecken konnte. Ein säuerlicher 255

    Gestank ging von ihm aus.
    »Vielleicht bist du ja ein bisschen zäher als dein kleiner Bruder«, presste er zwischen seinen dünnen Lippen hervor.
    »Der hat vielleicht gejault. Wie der geheult und gewimmert hat, als ich seinem Freund die Augen ausgestochen und dann bei ihm weitergemacht habe. Er hat gejault und gejammert nach seiner großen Schwester. ›Kristín‹, hat er immerzu geheult und wollte gar nicht mehr aufhören. ›Kristín‹. Aber seine Kristín hat gar nichts gehört, denn die hat ja

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