Gletschergrab
erfroren.«
»Ja.«
»Gab es irgendwelche persönlichen Papiere an Bord?«
»Ratoff hat nichts dergleichen gemeldet. Meinst du, ob dein Bruder eine Nachricht hinterlassen hat?«
»Wir haben die ganzen Kriegsjahre hindurch immer miteinander korrespondiert. Wir standen uns sehr nahe. Ich habe überlegt, ob er etwas niedergeschrieben haben könnte, ein paar Worte, ein paar Gedanken, falls er den Absturz überlebt hat.«
»Sorry.«
»Und die Dokumente?«
»Die hat Ratoff.«
Sie schwiegen eine Weile.
»Du machst die Sache nur noch komplizierter«, sagte Carr,
»das weißt du.«
»Ich will ihn nicht noch einmal verlieren«, sagte Miller.
264
33
Kristín starrte wie gebannt auf Ratoff. Er stand dicht vor ihr und strich ihr mit dem Stechbeitel über den Hals, das Kinn und bis zu den Augen. Sie hatte keine Ahnung, was sie ihm über Napoleon erzählen sollte, aber irgendetwas musste sie sagen, etwas, was ihn innehalten ließ, etwas, was er hören wollte. Was, spielte keine Rolle. Irgendwas. Sie musste versuchen, das Gespräch in die Länge zu ziehen. Sie spürte, dass sie jetzt in genau der gleichen Situation war wie ihr Bruder, und begriff, wie ihm zu Mute gewesen sein musste. Sie verstand, welche Angst ihm dieser Mann eingejagt haben musste. Todesangst.
Angst, den Verstand zu verlieren. Wann war das gewesen?
Gestern Abend? Vorgestern Abend?
Was sollte sie sagen?
»Ich weiß, dass du versuchst, hier die Heldin zu markieren und uns aufzuhalten«, sagte Ratoff. Kristín war vor ihm bis zur hintersten Zeltstange zurückgewichen. Simon hatte seine Maschinenpistole auf sie gerichtet. Die zwei Soldaten, die am Zelteingang gestanden hatten, hielten Steve fest.
»Du glaubst, dass hier bald deine Rettungsmannschaft eintreffen wird«, fuhr er fort, »und dass sie dich hier rausholen und die ganze Welt davon erfährt, was wir hier machen. Daraus wird aber nichts. Keiner stellt sich uns hier in den Weg. Wir haben eure Regierung in der Tasche. Eure Rettungsmannschaft haben wir gestoppt. Tja, was nun, mein schönes Kind? Wir verlassen jetzt den Gletscher, und dann wird es niemanden mehr geben, der von unserer Aktion weiß. Warum hast du es dir auch zur Aufgabe gemacht, die Welt zu retten? Warum bist du nicht zu Hause bei dir und glotzt auf die Mattscheibe? Merkst du denn gar nicht, wie lächerlich du bist? Was für eine alberne Gans du bist?«
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Kristín antwortete ihm nicht. Was er sagte, ging völlig an ihr vorbei. Sie begriff nur, dass er gefährlich war. Verrückt. Ein Mörder.
»Jetzt erzähl mir von Anfang an …«
»… die Pavehawks heben ab«, rief ein Soldat ins Zelt hinein.
»… wie du auf Napoleon gestoßen bist.«
Sie hörten, wie die Hubschraubermotoren in Gang gesetzt wurden.
»Das haben wir von einem alten Piloten in Keflavík, der hat uns von Napoleon erzählt«, rief Steve. »Und nicht sie weiß, was das bedeutet, sondern ich.«
»Wie ritterlich!«, flüsterte Ratoff Kristín ins Ohr.
»Er lügt«, sagte Kristín.
»Nein, wie reizend«, flüsterte Ratoff.
Kristín merkte erst gar nicht, wie er zustach. Es fühlte sich zunächst so an, als sei sie gekniffen worden. Durch den Winteroverall und die Kleidung darunter stieß er ihr den Stechbeitel einige Zentimeter tief in die Seite. Blitzschnell.
Dann spürte sie auf einmal einen brennenden Schmerz durch die Seite zucken und fühlte, dass es anfing zu bluten. Er ließ den Stechbeitel in der Wunde.
Sie schrie auf vor Schmerz und versuchte, ihn anzuspucken, aber ihr Mund war völlig trocken.
Er drehte den Stechbeitel in der Wunde, und die Augen drohten ihr aus dem Kopf zu springen, als der Schmerz durch ihren ganzen Körper raste. Wieder schrie sie laut auf. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie Steve kämpfte, um sich zu befreien.
»Wer weiß sonst noch von Napoleon?«, fragte Ratoff, der mit wissenschaftlichem Interesse zu verfolgen schien, wie Kristín auf den Schmerz reagierte. Sie stand auf Zehenspitzen und überragte ihn.
»Alle«, stöhnte sie.
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»Was heißt alle?«
»Die Regierung, die Polizei, die Medien. Alle.«
»Lügst du jetzt?«
»Nei«, sagte sie auf Isländisch. »Nei.«
Wieder drehte er den Stechbeitel herum.
»Dann sag mir jetzt, was Napoleon bedeutet.«
Kristín antwortete ihm nicht. Der Schmerz war unerträglich.
Sie hatte das Gefühl, jeden Augenblick in Ohnmacht zu fallen.
Der Stich musste mindestens zehn Zentimeter tief sein.
»Was ist Napoleon?«, fragte Ratoff.
Kristín schwieg.
»Hast du schon
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