Gletscherkalt - Alpen-Krimi
»pling, pling,
plong« tief im Innern der Spalte irgendwo aufklatschten.
Kein Lebenszeichen. Nichts, was darauf hingewiesen hätte, dass sich
jemand im Inneren des Gletschers befand. Marielle legte sich in den Schnee,
jede Bewegung dabei bedächtig und höchst vorsichtig ausführend. »Nehmt mich
straff!«, rief sie. »Ich muss da richtig reinleuchten.«
Sie lag am Rand des Lochs, schaltete die LED -Lampe
an, die sie am Kopf über der leichten Mütze trug, und ließ den Lichtschein
durch die tiefe Höhlung kreisen. Sie sah Reflexionen und Schimmer, sah
glitzerndes Eis, das in ihrem Licht blau aufleuchtete, sah weiße Schneekrusten
an blank polierten Eisflächen, sah ein Wunder der Natur – an dem sie sich nicht
freuen konnte, denn das Entsetzen kam sofort. An zwei Stellen sah sie rote
Flecken an den Eiswänden, und unten, tief unten, da schien ein Mensch zu
liegen, sonderbar verdreht und weiß beschneit.
Sie schob sich zurück, nur einen halben Meter oder einen Meter, und
wandte sich zu Pablo und Michael um: »Er ist da unten«, sagte sie mit tonloser
Stimme. »Er ist wirklich da unten …«
Sie wusste, was die beiden Kerle von ihr erwarteten. Und sie wusste
auch, dass ihr gar nichts anderes übrig blieb. So rappelte sie sich hoch,
setzte sich an den Rand der Öffnung, ließ die Beine hineinhängen und sagte:
»Lasst mich ab. Verdammt noch mal, lasst mich vorsichtig ab. Ich scheiß mir
derart in die Hose.«
Mit angeschalteter Stirnlampe tauchte sie hinab in diesen Schlund
aus Eis. Es war nicht das erste Mal, dass sie sich in einem Gletscher befand.
Im Rahmen der Bergführerlehrgänge, an denen sie bislang teilgenommen hatte,
waren die Techniken des Gletscherbegehens ebenso Thema gewesen wie die Gefahren
und die Techniken des Bergens im Falle eines Unglücks. Immer hatte sich ein
Teilnehmer opfern müssen – natürlich auch Marielle –, war dann in die Spalte
abgelassen worden und hatte sich entweder mittels Steigklemmen und
Prusikschlingen selbst zu befreien oder hatte auszuharren, bis es den Kameraden
gelang, den gestürzten Seilpartner hochzuziehen. Das war für sie das Schlimmste
gewesen: In ihrem Sitzgurt im Seil zu hängen, frei baumelnd zwischen den sich
nach oben verengenden Spaltenwänden, nichts als Kälte um sich und unter sich
viel Luft. Dabei immer die Frage im Hinterkopf: Machen die dort oben alles
richtig? Und wenn sie etwas falsch machen – was geschieht dann mit mir? Die
Antwort auf die zweite Frage war einfach. Aber sie war auch schockierend. Vor
allem in so einer Situation. Wenn die dort oben was falsch machten, darüber war
sie sich im Klaren, dann wäre das mit ziemlicher Sicherheit ihr Ende. Das Eis
war hart wie Stahlbeton. Alle Knochen würde sie sich brechen.
Meter für Meter glitt sie in die Spalte hinein. Anfangs hatte sie
noch Kontakt zur linken Eiswand, hatte sich mit den steigeisenbewehrten Schuhen
abstützen können. Mittlerweile aber hing sie frei in der Luft, drehte sich um
die eigene Achse und kam der Schneebrücke, auf der eine Person lag, immer
näher.
Sie hatte kein Gefühl dafür, wie tief sie in die Spalte gelassen
wurde. Bis zu dem Augenblick, da die Zacken ihrer Steigeisen in den harten
Schnee griffen, auf dem der Verunglückte lag, hatte sie nichts anders als Angst
gehabt. Angst vor dem Abgelassenwerden in die eisige Kluft. Und Angst vor der
Begegnung mit dem Menschen, der wahrscheinlich tot war.
»Bin da!«, schrie sie mit aller Kraft nach oben. »Gebt noch bisschen
Seil! Noch bisschen! Stopp! Nicht mehr!«
Sie stand vor dem Verunglückten, hatte festen Halt auf der
Schneebrücke, hatte sich gerade so viel Seil nachgeben lassen, wie sie
benötigte, um die wichtigsten Handgriffe zu tun, aber auch nicht mehr – denn so
eine Schneebrücke konnte trügerisch sein und vielleicht schon im nächsten
Moment unter ihrem Gewicht zusammenbrechen. Denn das hatte sie schon gesehen:
Hier, wo sie sich befand, war die Spalte nicht zu Ende. Nachtschwarz lauerte
unter ihr eine unergründliche Tiefe.
»Hallo«, sprach sie den Verunglückten an. »Hallo! Hörst du mich?
Kannst du mich hören?«
Sie hoffte auf ein kleines, ein winziges Lebenszeichen. Eine
Bewegung. Einen Laut. Irgendwas.
Aber da war nichts. Die Person lag mit abnorm verdrehtem Körper in
der Spalte. Der Kopf lag seitlich auf einer Schulter, eines der Beine war
angewinkelt, und der Fuß lag unter dem anderen Bein, das in den Dimensionen
unstimmig wirkte.
Marielle trat noch einen Schritt näher. Sehr vorsichtig
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