Gletscherkalt - Alpen-Krimi
wurde.
Sie machte einen ihrer Bergläufe, vom Inn bei Innsbruck steil hinauf
zur Hungerburg. Mit diesen Läufen holte sie sich ihre phänomenale Kondition,
sie hielt sich körperlich schlank und fit und, was ihr vielleicht das
Allerwichtigste war, es war ihre Zeit, um nachzudenken und die Gedanken sich
klären beziehungsweise sich setzen zu lassen.
Sie atmete laut. Die Oberschenkel brannten. Der ganze Körper wollte
nichts anderes, als das Tempo wenigstens zu reduzieren. Doch Marielle gab nicht
nach. Sie quälte sich, ignorierte den Schmerz, antwortete auf die Anfechtungen
ihrer Muskeln und Sehnen mit einer leichten Forcierung des Tempos und ließ erst
ein wenig locker, als sie nach wiederholtem Blick auf ihre Armbanduhr
feststellte, heute niemals auch nur annähernd an ihre Bestzeiten heranzukommen.
Es war ihr immer wieder ein Rätsel: An Tagen, da sie sich besonders fit fühlte,
lief sie meist schlechter als an anderen, wo sie gestresst an den Start ging,
wo sie schlecht geschlafen oder zu üppig gegessen hatte. Sie hatte schon daran
gedacht, dass es an den Gedanken liegen könnte, die sie sich während ihrer
Bergläufe machte. Ob ein Zusammenhang zwischen schlechten Gedanken und
schlechtem Laufen bestand, zwischen schönen Gedanken und guten Zeiten. Es wäre
immerhin eine Möglichkeit gewesen. Doch sie konnte die These nicht belegen.
»Ist halt so«, hatte ein Kommilitone gesagt, der bekannt dafür war,
mit einem Minimum an Worten und Emotionen auszukommen. »Ist halt so. Kannst gar
nix machen.«
Auf der Aussichtsterrasse der Station Hungerburg machte Marielle,
von einigen Innsbruck-Touristen begafft, ein paar Dehnübungen, sie sog die Luft
tief ein und blies sie pfeifend aus ihren Lungen heraus.
Sie liebte den Blick von hier über die Stadt, über die Türme und
Dächer und Straßenschluchten zwischen den hohen Altbauhäusern. Über das Gewirr
von Straßen und Blöcken bis hin zu den Bergen, die sich im Süden eindrucksvoll
erhoben. Von hier oben war Innsbruck bei fast jedem Wetter und zu fast jeder
Tageszeit schön. Und ganz besonders gefielen ihr die ebenmäßigen Pyramiden der
Nockspitze und der Serles – Zwillinge, dachte sie, und wenn schon nicht
Zwillinge, dann immerhin Geschwister, die sich verdammt ähnlich sehen.
Als sie wieder bergab lief, langsam jetzt, bedächtig, den steilen
Weg in engen Serpentinen bewältigend, damit die Knie etwas geschont wurden,
dachte sie über den schrecklichen Mord in Südtirol nach. Wie sie nicht weit vom
Haus entfernt gestanden waren, wo nicht lange zuvor ein Mann elendig umgekommen
war.
Es war ein warmer Tag, und auf Höhe des Alpenzoos roch sie den
scharfen Urin der Tiere. Einen Moment lang dachte sie an Zirkus. Dann aber an
Gefahr.
Sie fragte sich, was für ein Mensch das war, der einen anderen so
grausam strafte. Der ihn, wie es hieß, über Stunden langsam hatte sterben
lassen. Der nicht bereit war, seinem Opfer wenigstens den Gnadenstoß zu
versetzen.
Wäre nichts für mich, dachte sie. Einen Job machen wie Hosp oder
früher Schwarzenbacher und immer solchen Gewaltverbrechern nachspüren. Allein
der Gedanke an den Mörder von Hellwage machte ihr Angst.
Und doch …
Sie blieb stehen, stemmte die Hände in die Hüften, ließ den Rumpf
kreisen, beruhigte den Atem und suchte und fand einen Rhythmus aus Ein und Aus.
Die Sonne stand hoch über der Stadt, und alles, was auf den Dächern aus Blech
war, glänzte silbrig oder schimmerte bleiern.
Ich habe keine Lust, Mörder zu jagen, dachte Marielle.
Ich habe aber auch keine Lust, weiter in die Uni zu gehen.
Sie versuchte, diese Überlegungen zu bannen, sich nicht weiter
darauf einzulassen. Denn die nervten. Seit sie zwanzig war, widerfuhren ihr
diese Sinnkrisen in immer kürzeren Abständen. Sie wusste dann nicht, was sie
wollte. Überhaupt nicht. Zweifelte an ihrem Studium, ihrer ohnehin vor sich hin
dümpelnden Bergführerausbildung, an ihrer Beziehung zu Pablo, an ihrer Zukunft.
Und das machte sie jedes Mal unausstehlich. Für andere und für sich selbst. Sie
wusste das nur zu gut, wusste aber auch, dass ihre Haut dann wie ein Gefängnis
war, aus dem sie nicht entschlüpfen konnte. Es gab nur eine Möglichkeit …
Als sie die Straße erreichte, die am Innufer entlangführte, drehte
sie sich abrupt um und begann, den steilen Berg wieder hinaufzusprinten.
*
Kurth fuhr fluchend durch Zirl. Manczic war weg. Er hielt an der
Bushaltestelle vor einer Pizzeria und versuchte, auf vergilbenden
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