Gletscherkalt - Alpen-Krimi
Spaltenbereich.
Vorsichtig, denn auch davor schon würde es Spalten geben, offene, gut
erkennbare, bestimmt aber auch solche, die man erst wahrnahm, wenn man im
freien Fall in die Tiefe stürzte oder sich an ihren stahlharten Seitenwänden
aus bläulich schimmerndem Eis alle Knochen brach.
Tinhofer setzte vorsichtig Schritt vor Schritt, sondierte immer
wieder mit dem Eispickel das Terrain vor seinen Füßen, machte keine unbedachte
Bewegung. Er agierte mit größter Vorsicht, und er fühlte sich zugleich absolut
wohl auf dem labilen Untergrund. Die Gletscher der Tiroler Bergwelt waren ihm
in den letzten Jahren in einem Maße vertraut geworden, dass er keine Angst mehr
hatte. Vorsicht ja, Angst aber kein bisschen.
Er war allein, ganz allein. Zur Grünen Wand war den ganzen Tag kein
Mensch heraufgestiegen. Ist halt auch nur ein relativ unbedeutender
Nebengipfel, dachte er. Noch nicht einmal dreitausend Meter hoch. Zur schönen
Wollbachspitze, schräg gegenüber, hatte er am Morgen einige Seilschaften
hinaufspuren sehen. Doch diese Bergsteiger waren wahrscheinlich längst wieder
am Abstieg zur Hütte, oder sie saßen schon auf der Terrasse beim Bier. Hier
heroben war weit und breit niemand außer ihm. Und er genoss das völlige
Alleinsein. Für ihn konnte es kaum etwas Schöneres geben.
*
Mit dem Bus hatte Manczic kein Glück gehabt. Der war schon eine
halbe Stunde zuvor abgefahren. Doch wie er so an der Straße stand, ein alter
Mann, der mit seinen Wanderschuhen und dem Tagesrucksack nach Bergfreund aussah,
hielt ein junger Handwerker und fragte, ob er ihn irgendwohin mitnehmen könnte.
Wenig später stieg er bei der Trambahnhaltestelle vor Stift Wilten
aus dem Wagen.
Das trifft sich gut, dachte er. Wirklich sehr gut.
Er hatte keine gute Erinnerung an die Klosterkirche. Als er das
letzte Mal da war, hatte ihn dieser blöde Pfaffe angesprochen. Er hoffte, ihn
diesmal nicht wieder anzutreffen. Doch er nahm es in Kauf. Sein Herz und seine
Seele verlangten nach der Stille der Kirche, nach dem Geruch und dem Licht der
Kerzen, nach der Ahnung von Weihrauch. Er musste eine schwierige Entscheidung
treffen.
*
Zur selben Zeit, als Tinhofer auf seinem Rucksack kniete und ein
winziges Rinnsal fotografierte, das sich einen gewundenen Miniatur-Canyon ins
Eis gegraben hatte, versuchte ihn seine Frau auf dem Handy zu erreichen.
Sie hatte sich von vornherein keine großen Hoffnungen gemacht. Sie
wartete auf eine Verbindung. Es wäre schon beinahe ein Wunder gewesen, wenn er
das Handy angeschaltet hätte.
»Die von Ihnen gewählte Nummer ist momentan nicht erreichbar. Sie
können aber eine Nachricht auf der Mailbox hinterlassen«, sagte eine
Maschinenstimme. »Bitte sprechen Sie nach dem Signalton.«
Sie zögerte einen Moment lang. Machte es Sinn, ihm eine Nachricht zu
hinterlassen? Wahrscheinlich nicht. Aber es war immerhin besser, als gar nichts
zu tun.
»Hallo! Ich bin’s. Kannst du mich bitte ganz dringend zurückrufen?
Hier hat ein Verlag angerufen. Ein slowenischer Verlag. Wollen mit deinen
Bildern was machen. Aber irgendwie war das komisch, dieser Anruf, dieser Mann.
Vielleicht weißt du ja schon mehr dazu. Also, ruf mich bitte an. Bussis. Und
pass auf dich auf.«
Das wohltuende Gefühl, etwas unternommen zu haben, verflüchtigte
sich schon wenige Minuten später.
Ohne eine richtige Begründung dafür zu haben, bereitete ihr der
Anruf von diesem Mann Sorgen. Ein unbehagliches Gefühl, das sie nicht nur nicht
loswurde, sondern das sich sogar noch verstärkte. Von Viertelstunde zu
Viertelstunde wurde es schlimmer.
Irgendwann ging sie in den Keller, wo sie in einer offenen
Plastikbox die alten Zeitungen für die Altpapiersammlung aufbewahrten, und nahm
sich einen Packen heraus, der so ungefähr die Überreste der letzten beiden
Wochen enthielt.
Oben in der Wohnung setzte sie Wasser für einen Kaffee auf und
sortierte die Zeitungen nach Datum.
Lange musste sie nicht suchen, bis sie fündig wurde.
Sie schenkte sich die erste Tasse Kaffee ein, goss einen großen
Schuss Kaffeesahne dazu und begann zu lesen.
Reinhold Spiss war in letzter Zeit ein wiederkehrendes Thema
gewesen. Sein Tod und sein Leben. Sein Ende an einem Baum neben der
Brennerstraße. Der Skandal, der schon so lange zurücklag. Der Mord in Südtirol,
der mit Spiss in Zusammenhang stehen sollte.
Sie versuchte sich zu erinnern.
*
Es war eine Meldung von vielen. Keine schöne Sache, aber auch
nichts, was Innsbrucker Kriminalbeamte sonderlich hätte
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