Glockenklang von Campanile
wir uns lieben.”
“Du kennst mich nicht. Ich bin nicht der Mensch, den du in den vergangenen wenigen Tagen erlebt hast – voller Lachen, entspannt, dem Augenblick ergeben. Normalerweise lebe ich nicht so. Ich plane alles, damit ich es einigermaßen unter Kontrolle habe. So fühle ich mich sicherer. Aber hier, mit dir, bin ich anders.”
“Das ist gut.”
“Ich bin hier anders, weil es für mich wie Urlaub ist!”, rief sie. “Sobald ich wieder … im Alltagstrott bin, wirst du mich möglicherweise nicht wiedererkennen. Vielleicht bin ich dann jemand, den du nicht einmal mögen würdest.”
Warum hat er nicht auf mich gehört? Warum nicht?, dachte sie sehr viel später. Denn sie hatte recht behalten, so als hätte sie alles vorausgeahnt.
Anstatt vernünftig zu sein, hatte er sie nur angesehen und sanft gesagt: “Willst du mir sagen, du liebst mich nicht?”
“Nein, nein, ich liebe dich …”
“Dann schaffen wir auch alles andere.”
Sie hatte nicht das Herz gehabt, zu protestieren. Sie wollte ihn zu sehr, und an diesem schönen Ort war es leicht zu glauben, dass es auf alle Probleme eine Antwort gab.
Te voja ben.
Sie zog die Augenbrauen zusammen. “Welches Wort heißt
liebe
?”
“Keins davon. Wörtlich übersetzt heißt es: Ich wünsche dir Gutes.” Er zog sie fester an sich. “Ich wünsche dir Gutes, Sonia.” Dann warf er den Kopf in den Nacken und rief zum Himmel hoch: “Ich wünsche dir Gutes!”
Sie fing an zu lachen, nicht weil es sie amüsierte, sondern vor Freude. Er stimmte ein, und sie lachten glücklich miteinander.
“Sag Ja”, rief er. “Sag es schnell, bevor du überlegen kannst. Sag es!”
“Ja”, lachte sie. “Ja, ja, ja!”
“Komm!” Er nahm ihre Hand und sprang auf.
“Wohin gehen wir?”, keuchte sie und bemühte sich, Schritt zu halten.
“Zu meiner Familie. Sie werden sich schrecklich freuen.”
“Aber …”
“Schnell, es wird Stunden dauern, ehe wir alle besucht haben.”
Und das war noch untertrieben. Selbst in jenem Moment kam für ihn die Familie zuerst, dachte sie später.
Trotzdem war es der schönste Tag ihres Lebens.
Heute, fast zwei Jahre danach, waren sie weiter voneinander entfernt als je zuvor, als sie Seite an Seite zum Krankenhaus gingen, um seine Mutter zu besuchen. Sonia war kalt. Ihr Herz fror, aber auch ihr Körper litt. Hier in Venedig herrschte keine knackige, frische Kälte, wie sie sie aus England kannte, sondern feuchtes, deprimierend trübes Winterwetter.
“Im Winter muss Venedig die schlimmste Stadt der Welt sein.” Sonia fröstelte.
“Im Winter ist keine Stadt schön.”
“Aber die anderen sind nicht auf Wasser gebaut. Feuchtigkeit und Nässe sind überall, um dich herum, dringen in alles ein, machen es klamm und ungemütlich. Venedig im Winter habe ich nie gemocht.”
“Ja, du bist nie eine richtige Venezianerin geworden”, gab er ihr recht. “Wir lieben Venedig zu dieser Jahreszeit wie in keinem anderen Monat, denn wenn die Touristen fort sind, haben wir endlich Zeit für uns. Aber du hattest für niemanden von uns je Zeit.”
“Man ließ mir ja keine Wahl. Es war, als wohnte die ganze Familie zusammen. Alle fünfzig – oder sind es sechzig? Deine Mutter entschied sogar, wo du und ich leben sollten.”
“Meine Junggesellenwohnung war zu klein für uns zwei. Und bis du herausfandest, dass sie unsere neue Wohnung ausgewählt hatte, gefiel sie dir.”
“Natürlich lag sie nur zwei Straßen von ihrer entfernt.”
“Venedig ist eine kleine Stadt. Man wohnt nie mehr als ein paar Straßen vom anderen entfernt.” Seine Stimme klang heiser, als er hinzufügte: “Nun, jetzt bist du ja weit genug weg, nicht wahr?”
In wenigen Minuten hatten sie das kleine, aber gut ausgestattete Krankenhaus von San Domenico erreicht. Die weißen Korridore waren freundlich gestaltet, besonders jetzt, wo schimmernde Weihnachtsdekorationen ihnen festlich bunten Glanz verliehen. Der Weg hinauf zu Giovannas Zimmer führte an der Entbindungsstation vorbei. Als sie sich der Tür näherten, kam eine rundliche Schwester heraus, im Arm einen Stapel Papiere. Ihr Gesicht leuchtete auf, als sie Sonias dicken Bauch sah.
“Ich wusste, ich gewinne!”, rief sie und strahlte Sonia an. “Ich bin Mutter Lucia. Ich leite die Entbindungsstation. Sie kommen gerade rechtzeitig.”
“Wozu?”, fragte Sonia verwundert.
“Um uns ein Weihnachtsbaby zu bescheren. Ich habe mit Dr. Antonio gewettet, dass wir eins bekommen werden.”
“Sie haben
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