Gloriana
blickte finster auf Quire herab. »Was? Ein weiterer Unfall? Seid Ihr schwer verletzt, Sir Vivien?«
Der andere schwitzte vor Schmerzen. »Rücken gebrochen … Ich bin am Leben. Holt lieber ein paar Pferdeknechte und ein ausgehängtes Gatter …« Er blickte zu seinem Freund auf. »Wie geht die Jagd, Sir Orlando?«
Hawes blickte kühl über die Flußlandschaft hin, wo es der Meute schwerfiel, die Fährte zu halten. »Oh, ich denke, sie werden den kleinen Fuchs bald gefangen haben.«
DAS EINUNDDREISSIGSTE KAPITEL
In welchem Meister Tolcharde seine größte Errungenschaft präsentiert
und die Dinge zwischen Rivalen und Liebhaber sich zuspitzen
Die Salons und Gesellschaftsräume waren fast gänzlich aufgegeben, und die Königin unterhielt ihre Gäste in schwer parfümierten, zusammenhängenden Räumen ihres Serails, wo ihnen von Jungen und Mädchen mit eingeölten, nackten Körpern sowie von Riesen, Zwergen, Hermaphroditen und allen Arten von sonderbaren Menschen aufgewartet wurde. War im vergangenen Jahr das Thema des herbstlichen Maskenspiels Das Fest des Bacchus gewesen, so war es in diesem Jahr ein mehr unmittelbares Bacchanal, beaufsichtigt von einer schläfrigen Königin und einem ironischen Quire von der gemeinsamen Couch auf einer Plattform über dem Festsaal, wo die Gäste auf Polstern um niedrige Tische lagen, als ob sie in einem nördlichen Byzanz tafelten, und sich mit Speisen, Lust und Wein ermüdeten. Verborgene Musikanten spielten süßliche, träge Musik, zu der einige von Meister Priests Tänzern, unter ihnen Alys Finch und Phil Starling, langsam wie in einem Traum ihre Figuren tanzten.
Es war, als sei die Welt in Üppigkeit und gottloser Leichtfertigkeit abgelaufen. Ein paar Lampen und Fackeln gaben der Szene Licht, aber Dunkelheit wurde von allen gesucht, und die Farben ihrer Kleider, wie auch der Einrichtung, waren alle gedeckt. Sir Ernest Wheldrake, entblößt bis zur Mitte und einen mit gekreuzten Striemen bedeckten Rücken zur Schau tragend, hob einen mit Wein gefüllten Becher an die Lippen einer fast bis zur Empfindungslosigkeit betrunkenen Lady Lyst. In der anderen Hand hielt er sein Buch, aus dem er las:
»Rot ist die Frucht der Reben, Und magisch ihre Kraft, Drum soll, solang wir leben, Uns munden ihr edler Saft.
Die Stunden gehn im Mondenschein, Und Kopf an Kopf wir träumen. Die Laube soll das Bett uns sein, Du und ich, dein und mein, Beschirmt von flüsternden Bäumen.«
Lady Lyst runzelte die Stirn und schlug die Augen auf. Sie hob mit einem kleinen Ruck den Kopf und blickte umher, als wüßte sie nicht, wo sie war, und der Wein rann ihr aus dem Mundwinkel übers Kinn. Sie starrte mit einiger Verwunderung auf den kleinen Lilienstrauß in ihrer rechten Hand, dann schloß sie die Augen wieder, ließ den Kopf zurücksinken und begann tiefer zu atmen.
Sir Ernest war im Begriff, weiterzulesen, als die Zwillingsriesen, der schwarze und der weiße, die Türflügel öffneten, um Dr. Dee einzulassen, der, angetan mit seinem Magiertalar, die Pergamentrollen unter dem Arm, näher eilte, gefolgt von Meister Tolcharde in seinem besten Hofstaat und dem Thane von Hermiston in der Tracht seines Clans.
»Sieh da«, sagte Phil Starling vom Boden, wo er lag, die Hand arrogant in die wenig bemerkenswerte Hüfte gestemmt, »da kommt Meister Tolcharde, ganz aufgeplustert und ausgestopft und herausgeputzt und mit Juwelen bedeckt.« Einige lachten, und Dr. Dee warf Phil einen verdrießlichen Blick zu. Meister Wallis wollte den Jungen am Arm fortziehen, aber Phil machte sich los und sprang lachend hierhin und dorthin und begrüßte seine verschiedenen Freunde, während Wallis ihm bestürzt und flehentlich nachsah, um schließlich zu resignieren. Der Thane von Hermiston stand da, als hätte ihn der Gorgo Blick getroffen. »Bei Arioch! Was ist das hier?« rief er aus, und sein Vollbart schien sich zu sträuben. »Schlimmeres habe ich auf all meinen Reisen zwischen den Welten nicht gesehen.« Das belustigte die Königin. Sie hob die Hand und winkte ihm. »Kommt zu uns, mein teuerster Thane. Habt Ihr Neuigkei ten von Euren Abenteuern? Habt Ihr uns weitere Gefangene zu bringen, wie Ihr uns Kapitän Quire brachtet?«
Der Thane errötete, dann blickte er finster zu Quire. »Kapi
tän, diese Frau hat Euch verdorben!«
Die Königin lachte. »Im Gegenteil, Sir!«
»Was für ein Ort ist dies?«
»Es ist ein Ort des Vergnügens«, sagte sie.
»Majestät …« Dr. Dees Antlitz zeigte deutliche Spuren von
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