Gloriana
Una wandte sich vom Fenster ab und ging zu der Kordel des Glokkenstrangs, weil die Königin bald erwachen mußte, zögerte dann aber, um auf ihre friedlich schlafende Freundin zu blikken. Glorianas riesige Schönheit füllte das Bett; ihr wunderbares kastanienbraunes Haar lag um ihren Kopf ausgebreitet, und ihr helles, feingeschnittenes, unschuldig aussehendes Gesicht, halb vom Licht abgewandt, das vom Fenster her einfiel, zeigte einen Ausdruck kindlicher Sehnsucht, der Tränen in Unas Augen steigen ließ und sie zu Überlegungen anregte, wie sie die Königin unterhalten und wieder zu einem unbekümmerten Mädchen machen könne, und sei es nur für ein paar Stunden. Seit einiger Zeit hatte Una sich mit dem (eigennützigen, wie sie dachte) Wunsch getragen, Gloriana zu zeigen, was sie über die Natur des Palastes entdeckt hatte. Sie hatte aus mehreren Gründen gezögert: Glorianas Zeit gehörte ihr selbst am wenig sten; Gloriana zog es vor, so lange wie möglich in privater Gesellschaft mit Una zu sein; Gloriana trug so viele Sorgen, die den Palast, die Stadt und das Reich betrafen, mit sich herum, daß weiteres Wissen ihre Ängste vermehren mochte. Und doch, dachte Una, sollte sie Gloriana eine Entschädigung für alles das bieten, denn das war es, was sie ihrer Freundin bieten konnte: ein gemeinsames Geheimnis, abseits von Staat und Politik, ein persönliches Wissen, das einmal von Nutzen sein mochte, weil es sich auf Fluchtmöglichkeiten bezog. Obwohl sie wußte, daß die Verpflichtungen der Königin die Verwirklichung eines solchen Vorhabens an diesem Tag gestatteten, zögerte Una weiter, unschlüssig angesichts der Verantwortung, die überall zugegen war und jede Unternehmung begleitete; in diesem Sinne trug sie eine beinahe ebenso schwere Bürde wie die Königin. Sie wußte auch, daß die hellen, scharfen Gedanken des Morgens, wenn man ihnen noch ungestört nachhängen konnte, allzubald von ungezählten Überlegungen, neu auftretenden Verpflichtungen und unvorhergesehenen Ereignissen getrübt wurden, nicht zu reden von den eingeführten Ritualen und Gewohnheiten, von überraschenden Konfrontationen mit leichtfertig gemachten Versprechungen und Zusicherungen. Wenn sie Gloriana jetzt mit atemlos aufgeregten Voraussagen von Abenteuer und Freiheit weckte, mochte sie nur eine noch größere Melancholie heraufbeschwören, wenn ihnen der vorgegebene Tageslauf mit seinen tausendfachen Anforderungen bewußt würde. Una beschloß zu warten, mit ihrer Freundin ungezwungen darüber zu reden, um ihre Wünsche zu erfahren. Und so verließ sie den Raum und sein abgeschirmtes Bett und ging in den nächsten, die kleine Schlafkammer ihrer Zofe. Wie es ihre Gewohnheit war, trat sie ohne Warnung ein, fand Elizabeth Moffett aber bereits angekleidet und mit dem Ausbürsten ihres Haares beschäftigt.
»Morgen, Milady.« Elizabeth Moffett war in der Gegenwart ihrer Herrin völlig unbefangen. Ihr Gesicht war ein wenig gerötet, aber das kam von der Anstrengung des Bürstens. Ihre offenen, gesunden Züge waren typisch für ihre nördliche Heimat. Unas Bedienstete stammten sämtlich aus dem Norden, denn sie war geneigt, den Bewohnern der südlicheren Landesteile als wirrköpfig und pflichtvergessen zu mißtrauen; ein ererbtes Vorurteil, das sie als ungerecht erkannte, nach dem zu handeln sie jedoch vorzog, wenn es um die Einstellung persönlichen Dienstpersonals ging. Una liebte Elizabeth nicht zuletzt um ihrer Fähigkeit willen, das gewöhnliche Alltagsleben ohne besondere Entfaltung von Phantasie zu genießen.
»Guten Morgen, Elizabeth. Ich habe eine Besucherin. Würdest du bitte Frühstück für zwei vorbereiten und dafür sorgen, daß wir nicht gestört werden?«
»Hoho.« Elizabeth Moffett zwinkerte der Gräfin zu. Ihre Interpretationen von Unas Leben waren immer eindeutig und niemals subtil.
Una kehrte lächelnd in ihr Schlafzimmer zurück, wo Bettzeug raschelte und von Glorianas Erwachen kündete. Die Bettvorhänge teilten sich, und zwischen ihnen erschien der von wirrem Haar eingerahmte Kopf der Idealgestalt des Reiches, das Gesicht beschämt und ratlos. »Oh, Una!« Die Gräfin von Scaith war wieder am Fenster und beobachtete einen pferdegezogenen Karren mit einer Ladung von Setzlingen, unterwegs zu einem vorbereiteten Beet irgendwo in der Weitläufigkeit der Gärten. »Majestät?« Unas Miene war sanft ironisch und brachte Gloriana zum Lachen, wie Una es beabsichtigt hatte. »Una! Wie spät ist es?«
»Früh genug. Ihr habt
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