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Gloriana

Gloriana

Titel: Gloriana Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Moorcock
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Beliebtheit. Viele hofften sich auf solchen Wegen zu retten, wenn die Schergen kämen. Aber das ist natürlich nicht alles. Was gibt es noch?«
    »Ich fand die Wand hinter den Stufen hohl. Die Ziegel gaben nach. Ich machte ein Loch. Und da war es!« Una zog eine Kniehose an und knöpfte sie zu. Sie schlüpfte in ein Leinenhemd und versah Kragen und Manschetten mit Spitzenbesätzen, bevor sie das wildlederne Wams überzog und vom Nabel bis zur Kehle zuknöpfte. Strümpfe und Schnallenschuhe, ein scharlachroter Schlapphut mit einer Straußenfeder, und sie war bereit, das lederne Wehrgehänge mit Degen und Dolch um ihre Mitte zu gürten. Gloriana steckte ihr langes Haar auf und verbarg es unter einer engsitzenden Kappe, die auch mit Federn geschmückt war. Sie trug einen kurzen Umhang an einer Schulter, und ihr Wams war aus braunem, wattiertem Samt, doch glich sie Una in ihrer ganzen Erscheinung. So standen sie einander gegenüber, eine Hand in die Hüfte gestemmt, die andere am Degenknauf, und jede lachte über den Aufzug der anderen – zwei Galane der Stadt, jüngere Söhne verarmter Adelsgeschlechter, bereit zu jeder Eskapade.
    »Zuerst das Frühstück«, sagte Una, immer die Anführerin,
    wenn sie so verkleidet waren. »Und wir müssen eine von Meister Tolchardes tragbaren Uhren mitnehmen, damit wir wissen, wann wir umzukehren haben. Die Taschenuhr.« Sie fand sie, zog sie auf und legte sie in die vom Gürtel hängende Geldtasche, wo sie laut an ihrer Hüfte tickte. Sie ging zur Tür und öffnete sie einen Spalt. Elizabeth Moffett hatte getan wie geheißen, und ein Frühstück aus Haferbrei, Brot und Hering stand auf einem Kristalltisch bereit, der ein Beutestück von einem vergessenen westindischen Feldzug war.
    Nach dem Frühstück führte Una sie zum Wandschrank, schob eine quietschende Rückwand zur Seite und hob die Laterne, um den Gang, die Stufen und in der Wand zu ihrer Linken ein neu herausgebrochenes Loch zu beleuchten. »Hier«, sagte sie. »Ich kam darauf, als ich bemerkte, daß aus der Entlüftungsöffnung in einem meiner unteren Räume kalte Luft drang. Wo ich nichts weiter als einen kaminartigen Schacht vermutet hatte, entdeckte ich einen kleinen Gang – zu niedrig für aufrechtes Gehen –, der an dem betreffenden Zimmer vorbeiführt und aus dem man hineinschauen kann. Wenn ich wollte, könnte ich mich selbst bespitzeln. Aber das ist nicht sonderlich interessant. Hier.« Sie half der hochgewachsenen Gloriana durch die Maueröffnung. Dahinter waren weitere Stufen, die parallel zu den anderen abwärts führten. Der Laternenschein war in dem engen, kalten Gang beinahe zu hell. Sie flüsterten nur, doch ihre Stimmen wurden verstärkt, ebenso wie das Licht verstärkt schien. Staub kitzelte in ihren Nasen und brachte eine unbestimmte Nostalgie: Sie waren beide wieder Kinder, die einander an den Händen hielten und mit klopfenden Herzen in das unbekannte Labyrinth vordrangen. Eine aufgescheuchte Ratte huschte davon. Sie lüfteten grüßend ihre Kopfbedeckungen, als das Tier flüchtete. Spinnen wurden beobachtet, moosig-feuchte Mauerstellen entdeckt, die den Gesichtern bestimmter Höflinge ähnelten. Ihre Stimmung hob sich bis in die Nähe ekstatischer Begeisterung, während der Gang Windungen beschrieb, abwärts führte, wieder anstieg und sie fort von Würde und Anmut und Höflichkeit und den anderen nüchternen Anforderungen des Amtes führte, bis sie in eine hohe Galerie gelangten, deren Wände mit staubigem, kunstvoll verschnörkeltem Schnitzwerk bedeckt waren und wo mächtige alte Tragbalken eine hölzerne Kassettendecke trugen. Die Laternen warfen tanzende Schatten und brachten unmenschlich verzerrte Dämonengesichter und sonderbare Darstellungen von Tiergestalten ans Licht, doch die zwei Entdeckerinnen kicherten noch immer, wenn auch verstohlener, als fürchteten sie, diese geschnitzten Zeugen der Vergangenheit zu stören oder zu beleidigen. Selbst als sich etwas bewegte, ein größerer Schatten, der nicht ihr eigener war, verspürten sie keine Bangigkeit, obgleich sie Natur und Ursprung der Erscheinung nicht zu deuten wußten. Sie fanden von den Ablagerungen der Jahrhunderte gedunkelte und eingestaubte Gemälde und rieben sie ab, um die unvermutete Geschicklichkeit und Kunstfertigkeit der Alten zu bewundern. Sie setzten sich in staubige Lehnstühle und mutmaßten, wie viele Jahre sie hier gewartet haben mochten, um wieder benutzt zu werden. Überall glaubten sie menschliche Überreste zu finden

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