Glück, ich sehe dich anders
Meter langen Flur.
Mit Louise war vieles einfacher und leichter als mit Loreen. Wir hatten uns so sehr eine »gesunde Schwester« für Louise gewünscht, aber jetzt sorgten wir uns nicht weniger um Loreen. Es war dennoch eine Erleichterung zu wissen, warum Loreen diese Schreiattacken und die Empfindlichkeit und Unruhe hatte.
Uns wurde nach und nach klar, dass all die Probleme, die Loreen von Geburt an gezeigt hatte, eigentümlich waren für Kinder mit ihrer Behinderung. Ich hatte mich informiert und vieles genauer recherchiert, was die Ärzte schon angesprochen hatten. Auch Probleme mit den Augen gab es beim Williams-Beuren-Syndrom häufig. Während einer Suche im Internet stieß ich auf einen Selbsthilfeverein in Bayern. Ich schrieb mir die Telefonnummer auf und rief dort an. Horst, Väter einer Tochter, die das Williams-Beuren-Syndrom hat, erzählte mir, dass er viele Kinder mit dieser Behinderung kenne und alle eine sehr extreme Geräuschempfindlichkeit zeigten. Sie seien alle sehr unruhig und ängstlich. Gesa, seine Tochter, litt darüber hinaus an starken Sehstörungen.
Durch die Informationen und den Kontakt mit anderen betroffenen Eltern löste sich meine innere Anspannung; Rolf und ich wurden beide lockerer, lernten Loreens ganz besondere Bedürfnisse kennen und konnten uns gut auf die Behinderungen der Mädchen einstellen.
Wir informierten uns weiterhin ausführlich über beide Syndrome, knüpften immer mehr Kontakte zu anderen betroffenen Eltern. Allerdings Familien ausfindig zu machen, die mit Loreens Behinderung Erfahrung hatten, war nicht einfach. Doch schließlich gelangte ich durch das Internet zu einem Bundesverband für Williams-Beuren-Patienten. Ich erfuhr, dass in Deutschland zu dem Zeitpunkt nur dreihundert Fälle dieses Syndroms bekannt waren. Die Dunkelziffer konnte man nur erahnen, denn es handelt sich um eine Behinderung, die manchmal erst spät erkannt wird. Über das Internet suchte ich bald auch Kontakt zu ausländischen Familien. Ich erfuhr, dass beispielsweise bei einer Frau dieses Syndrom erst im Alter von neunundvierzig Jahren diagnostiziert worden war. Wir traten dem Bundesverband bei, der damals seinen Sitz noch in Schleswig-Holstein hatte, und erhielten eine Liste mit Namen und Anschriften von Familien in ganz Deutschland. Unter all den Adressen entdeckte ich die einer Familie, die nur drei Kilometer von unserem Wohnort entfernt lebte.
Ich rief die Mutter des betroffenen Jungen an, wir vereinbarten einen Termin für ein Treffen, und die Familie besuchte uns. Wir waren von diesem Jungen begeistert. Er hatte eine ruhige und nette Art, und seine Sprache war verständlich. Das Kennenlernen des Jungen machte uns Hoffnung.
Rolf und ich akzeptierten die Behinderungen unserer beiden Mädchen und wollten dies allen um uns herum vermitteln.
Diesen Wunsch hatten wir ans Leben: Die Menschen mögen offener mit dem Thema »Behinderung« umgehen, auf uns zukommen und uns einfach fragen, warum unsere Kinder auf ihre Art »anders« sind. Keiner musste Mitleid haben und peinlich berührt wegschauen. Ich formulierte diesen Satz für mich:
Unsere beiden Mädchen sollen ihren Weg ins Leben gehen, und unsere Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass das Glück sie zu jeder Zeit begleitet.
Und so nahmen wir diese große Herausforderung an, zwei ganz besondere Menschen mit viel Liebe, Geduld, Fürsorge und aller Kraft, die uns zur Verfügung stand, bei allen Höhen und Tiefen durchs Leben zu begleiten.
Nach ihrem zweiten Geburtstag meldeten wir Louise in einem heilpädagogischen Kindergarten an, damit ich mich vormittags ganz Loreen und ihren Bedürfnissen widmen konnte. Eine Integrationsgruppe, also für nicht behinderte und behinderte Kinder, befand sich zwar gleich in unserem Nachbardorf, aber wir wählten den entfernter gelegenen heilpädagogischen Kindergarten, weil wir dort die beste Fördermöglichkeit für Louise erwarteten. Außerdem konnte der integrative Kindergarten bei uns in der Nähe die Kinder erst ab einem Alter von drei Jahren aufnehmen, der heilpädagogische Kindergarten nahm Louise bereits jetzt. Letzterer lag obendrein im selben Ort wie die Schule für geistig behinderte Kinder, die später auch für unsere Kinder in Frage kam. Louise konnte sich somit von klein auf an die Fahrten mit dem Bus gewöhnen.
Allein der Gedanke, Louise allein mit fremden Kindern im Bus fahren zu lassen, fiel mir schwer. Sie war die Jüngste und Kleinste von allen. Der Bus stand schließlich zum ersten
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