Glück, ich sehe dich anders
lacht und lacht. Dieses wunderbare herzerfrischende Lachen. Ich träume, dass sie bei uns bleiben kann, aber nur unter einer Bedingung. Und dann sehe ich uns auf der Kinderkrebsstation. Immer wieder Chemos. Rolf und ich sehen uns an, und ich sage zu ihm: »Nein, nicht unter dieser Bedingung!«
Es hat geschneit.
Jedes Jahr, wenn die ersten Flocken fielen, habe ich mit Louise Plätzchen gebacken. Heute war es anders. Mir fehlt Louises Stimme, mir fehlen ihre dicken Fingerchen, die in dem Teig wühlen und mit Begeisterung Sterne ausstechen und auf das Backblech legen. Ich vermisse ihre Kommentare: »Das riecht aba hier aba lecker. Kekse, oh Mann, oh lecker.«
Und wenn es schneite, rannte sie begeistert zur Terrassentür. »Es schneit, es schneit, Mama, schau mal da und da so viele Focken. Ganz viele Focken.« Und dann hat sie gesungen: »Es schneit, es schneit, kommt alle aus dem Haus, die Welt, die Welt sieht wie gepudert aus.« Von Rolf Zuckowski. So schön hat sie gesprochen und gesungen. Ich erinnere mich an die Autofahrten zur Klinik, immer hat sie gesungen. Auch Weihnachtslieder. Einmal hat sie so getan, als würde sie mir einen Schneeball an den Kopf werfen. Ich musste zurückwerfen. Das Spiel ging mindestens über fünfzig Kilometer Entfernung.
Weihnachten. Mir wird jetzt klar: Es wird nie mehr so sein wie mit Louise.
Allein jedes Jahr unser Ritual: Louise und Loreen im Partnerlook auf dem Sofa platziert und dann ein Foto gemacht. Von jedem Jahr existiert eins. Vom ersten Jahr nur von Louise allein, weil Loreen noch nicht auf der Welt war; die folgenden Jahre Louise und Loreen – und dieses Jahr Loreen allein, weil Louise nicht mehr auf der Welt ist.
Wer schmückt mit uns den Tannenbaum? All die Erinnerungen kommen hoch, wenn ich nur die Kartons ansehe, in die die bunten Kugeln verstaut sind, die Louise so sehr mochte. Louise hat immer mitgeholfen. An jedem 22. Dezember haben wir den Baum gekauft und geschmückt. Und jeden Heiligabend, seit beide Kinder da waren, haben wir mittags mit der ganzen Familie bei uns die Bescherung ausgerichtet, mit Weihnachtsmann und Lachsbroten. Und abends waren wir dann zu viert, hatten einen Gänsebraten im Ofen, und Louise hat mit mir gekocht und auf den Braten aufgepasst, der so herrlich vor sich hin brutzelte. Jedes Jahr die gleichen schönen Rituale. Heiligabend ist mir so wertvoll geworden … und nun?
Wir müssen alles anders machen. Vielleicht Bescherung bei meiner Schwester und dann das Essen bei meinen Eltern? Und bei uns nur einen kleinen Tannenbaum? Und den ersten Weihnachtstag bei Nachbarn verbringen und den zweiten mit Freunden verleben? Eine Flucht von zu Hause?
Dann ist es so weit: Bescherung bei meiner Schwester mit der Familie und mit Frank, dem Weihnachtsmann, Loreens Freund und heimlicher Liebe …
Unsere Nachbarn helfen mit, uns ein angenehmes Weihnachtsfest zu bescheren. Ina – eine Lieblingsnachbarin mit fünf eigenen Kindern – nimmt Loreen zu sich und bekocht uns nebenbei mit ihren leckeren Hausmannsgerichten. Auch Carola – ebenfalls eine Lieblingsnachbarin – hat ihr Haus offen für Menschen, die zum Weihnachtsfest nicht allein sein möchten.
Und schließlich bekommt Loreen doch noch zu Hause ihr Weihnachtsfest mit einem Tannenbaum, der noch größer ausfällt als all die Jahre zuvor. Er steht in einer anderen Ecke, nicht da, wo er sonst seinen Platz hatte. Dort haben wir jetzt Fotos von Louise auf einem großen Schrank. Wir feiern ein Fest, aber wir gestalten es anders mit vielen wunderschönen Erinnerungen, die uns Halt geben. Und ich zünde Kerzen an für unsere Louise und für alle anderen dort oben im Weihnachtshimmel.
Nach Silvester fahren wir noch einmal in die Kureinrichtung nach Mittenwald, in der wir schon einmal mit beiden Kindern gewesen waren. Ich möchte alle Orte besuchen, an denen wir mit Louise waren. Es fällt unendlich schwer, aber innerlich merke ich: Ich muss es machen. Ich muss mir das alles noch einmal ansehen. Ich schaue mich auf dem Gelände der Kureinrichtung um. Es liegt Schnee wie damals. Ich entdecke den großen Schlitten, auf dem Louise damals mit Loreen gefahren ist. Ich sehe es vor mir, als wäre es gestern gewesen. In der Ferne sehe ich Loreen mit der Erzieherin der Kureinrichtung spazieren gehen. Loreen trägt den Schneeanzug, den Louise zuvor angehabt hat. Wenn ich nicht wüsste, dass es Loreen wäre, könnte es auch Louise sein, die dort im Schnee tobt.
Auf einmal hüpft ein Eichhörnchen über den
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