Glück, ich sehe dich anders
Kinderkrebsklinik einmal verpasst hatte, Bert, die Tweenies, der Teddy von Mister Bean und ihr Kuschelteddy. Herr Ramcke kniete sich nieder. Er betastete die Urne. Für einen Moment befürchtete ich: »Jetzt öffnet er den Deckel und kippt den Inhalt in das Loch!« Nein, er zog zwei Bändchen hervor, die an der Urne befestigt waren. Sie waren dafür vorgesehen, die Urne in das Loch herunterzulassen. Ich hatte Louise vier Handschuhe in das Loch gelegt – von jedem von uns einen. Symbolisch zum Wärmen der Hände.
Rolf und ich gingen nach der Beerdigung jeden Tag zum Grab. Viele Male, nachdem wir den Friedhof durch das Haupttor verlassen hatten, hielten uns Autofahrer an und fragten uns nach dem Weg. Sie fragten nach bestimmten Straßen, nach Geschäften, nach der Post oder wo eine bestimmte Veranstaltung stattfinde. Wir konnten es ihnen immer beantworten. Einmal fragten sie wieder ausgerechnet uns, obwohl neben uns so viele andere Menschen unterwegs waren, denn es sollte ein großer Musikumzug im Ort stattfinden. Warum sprachen sie immer ausgerechnet uns an, um nach dem Weg zu fragen? Diese Ablenkungen häuften sich so auffällig, dass wir uns Gedanken darüber machten. Es kam uns so vor, als wolle uns jemand vermitteln, dass wir den Weg oder die Antworten kennen. Die Leute mussten uns fragen, denn wir wussten, wo es langging.
Mir fiel auf, dass ich selbst tatsächlich immer eine Antwort finde. Ich fragte mich zum Beispiel, warum es an einem Tag so bewölkt war, wo es doch die ganzen Tage ein so schöner strahlend blauer Himmel gewesen war. Ich suchte nach Erklärungen, nach einem Sinn. Vielleicht hatten die da oben den Himmel zugezogen, weil sie etwas ausheckten, etwas vorbereiteten, eine Überraschung womöglich, die wir nicht sehen sollten. Oder wollten sie uns nicht sehen, die Erde nicht sehen, das Elend nicht sehen? Manchmal war im dicht bewölkten Himmel ein kleines blaues Loch. Das könnte ein Guckloch für Louise sein. Sie hatte die Wolke beiseite geschoben und lugte hindurch, weil sie uns doch nicht so ganz aus den Augen lassen konnte. Ich sah sie vor mir, barfuß, in einem langen weißen Gewand. Ich stellte mir vor, sie lebt mit anderen in einem Haus, und wenn sie das Quietschen der Friedhofspforte hört, dann holt sie die anderen herbei. Sie eilt barfuß zu einem Fenster, aus dem sie sich lehnt, den Kopf auf ihre Hände gestützt, ruft sie den anderen voller Stolz zu: »Kommt schnell her, da unten kommt meine Mama. Seht mal, wie schön sie meinen Garten angelegt hat!« Und ich höre die anderen sagen: »Oh, das ist deine Mutter? Die kennen wir. Da hast du aber Glück, dass sie deine Mutter ist!«
WAS MACHT LOREEN?
L oreen konnten wir nicht mit zur Trauerfeier in die Kirche nehmen, weil sie das Orgelspiel nicht vertragen würde. Es sollten aber auf jeden Fall Louises Lieder zu ihrem Abschied gespielt werden. Loreen war deshalb an diesem Tag bei Dörte, einer Freundin, untergebracht. Dörte hat einen Friseursalon gegenüber von Oma Karins Haus. Immer, wenn Loreen bei Oma zu Besuch war, musste sie auch Dörte im Laden begrüßen. Dörte hatte Loreen sofort in ihr Herz geschlossen. Loreen durfte den Kunden den Umhang umbinden, die Lockenwickler zählen, helfen, das Geld zu kassieren und neue Termine mit den Kunden zu vereinbaren. Am Tag der Trauerfeier war Dörtes Salon nachmittags geschlossen. Sie hatte Zeit, sich mit Loreen zu beschäftigen. Loreen half ihr, den Laden aufzuräumen, die Lockenwickler zu sortierten, die Bürsten sauber zu machen.
Ich besuchte oft gemeinsam mit Loreen »Louises Garten«, wie wir Louises Grab nennen. Etwa zwei Wochen nach der Beerdigung, wir hatten das erste Mal den Weg vorbei an der Kapelle genommen, sagte Loreen plötzlich: »Im Haus Louise mal besuchen!« Und mir wurde bewusst, dass sie dachte, Louise würde immer noch in der Kapelle liegen.
Ich dachte zu Hause darüber nach, was ich machen sollte, um Loreen zu zeigen, dass Louise nicht mehr dort aufgebahrt lag. Ich musste ihr die leere Kapelle zeigen. Ich rief den Bestatter an und fragte, ob es möglich sei, mit Loreen in die Kapelle zu gehen. Es war kein Problem. Wir trafen uns schon gleich am nächsten Tag. Ich holte Loreen vom Kindergarten ab, und kurz darauf standen wir vor der Kapelle. Loreen war ganz aufgeregt und hüpfte von einem Bein auf das andere. Sie rieb sich die Hände und sagte: »Gleich Louise mal besuchen. Louise schläft da.« Der Bestatter kam und schloss uns die Kapelle auf. Loreen rannte sofort den
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