Glücklich die Glücklichen
mich. Er sagte, tu Salz dran, sag ich dir. Und ich tat Salz dran. Igor Lorrain kam aus dem Norden, wie ich. Er stammte aus Béthune. Sein Vater arbeitete in der Flussschifferei. Bei mir gab’s nichts zu lachen. Aber bei ihm noch weniger. Bei uns zu Hause kam es schnell mal zu einer Backpfeife, wenn es nicht gleich Schläge oder in die Fresse geschmissene Gegenstände waren. Ich habe mich lange bei jeder Gelegenheit geprügelt. Ich habe meine Freundinnen geschlagen und auch meine ersten Freunde. Raoul schlug ich am Anfang auch, aber er lachte nur. Ich wusste nicht, was ich sonst tun sollte, wenn er mich ärgerte. Ich schlug zu. Entweder knickte er übertrieben in sich zusammen, als wäre ich eine der zehn ägyptischen Plagen in Person, oder er hielt mir mit einer Hand die Handgelenke fest und lachte. Damien hab ich nie geschlagen. Ich habe niemanden mehr geschlagen, seit ich meinen Sohn bekam. Im 95er, der von der Place Clichy zur Porte de Vanves führt, erinnerte ich mich daran, was mich so an Igor Lorrain gekettet hatte. Nicht Liebe oder wie man derlei Gefühle auch immer benennen will, sondern das Ungebändigte. Er beugte sich herüber und sagte, erkennst du mich wieder ? Ich sagte, ja und nein. Er lächelte. Da fiel mir ein, dass ich es damals nie geschafft hatte, ihm klar und deutlich zu antworten. – Du heißt immer noch Hélène Barnèche ? – Ja. – Du bist immer noch mit Raoul Barnèche verheiratet ? – Ja. Ich hätte gern längere Sätze gebildet, aber ich schaffte es nicht, ihn zu duzen. Er hatte lange graumelierte Haare, die er seltsam zurückgestrichen hatte, und einen aufgedunsenen Hals. In seinen Augen fand ich die Spur des düsteren Wahnsinns wieder, der mich eingesaugt hatte. Ich ging im Geiste mein Erscheinungsbild durch. Meine Frisur, mein Kleid und meine Weste, meine Hände. Er beugte sich wieder herüber und fragte, bist du glücklich ? Ich sagte ja und dachte, ganz schön dreist. Er nickte und setzte einen gerührten Blick auf, du bist glücklich, bravo. Ich hatte Lust, ihm eine zu scheuern. Dreißig Jahre in ruhiger Stimmung binnen zehn Sekunden weggefegt. Und du, Igor ?, fragte ich. Er lehnte sich zurück und antwortete, ich, nein. – Du bist Psychiater ? – Psychiater und Psychoanalytiker. Ich verzog das Gesicht, um auszudrücken, dass mir derlei Feinheiten nichts sagten. Er deutete eine Geste an, um mir zu sagen, das sei nicht schlimm. – Wo geht’s hin ?, fragte er. Diese drei Worte warfen mich über den Haufen. Wo geht’s hin , als hätten wir uns gestern Abend das letzte Mal gesehen. In demselben Ton wie früher, als hätten wir in unserem Dasein nichts anderes getan, als uns im Kreis zu drehen. Raoul hat mich nie festgehalten . Mein Rouli hat immer nur daran gedacht, zu spielen und Spaß zu haben. Ihm ist nie in den Sinn gekommen, sein Weibsstück zu bewachen. Igor Lorrain wollte mich festbinden. Er wollte in allen Einzelheiten wissen, wo ich hinging, was ich tat und mit wem. Er sagte, du gehörst mir. Ich sagte, nein. Er sagte, sag, dass du mir gehörst. Nein. Er packte mich am Hals, er drückte fest zu, bis ich sagte, ich gehöre dir. Andere Male schlug er mich. Ich musste es wiederholen, weil es nicht zu ihm durchdrang. Ich wehrte mich, ich gab jeden Schlag zurück, aber er überwältigte mich jedes Mal. Am Ende landeten wir immer im Bett und trösteten uns. Dann ergriff ich die Flucht vor ihm. Er wohnte in einem winzigen Dienstmädchenzimmer am Boulevard Exelmans. Ich flüchtete ins Treppenhaus. Er schrie übers Geländer, sag, dass du mir gehörst, und ich sagte beim Runterrennen, nein, nein, nein. Er fing mich wieder ein, presste mich an die Wand oder gegen das Aufzuggitter (manchmal kamen Nachbarn vorbei), er sagte, wo willst du hin, kleine Schlampe, du weißt doch, dass du mir gehörst. Wir liebten uns noch einmal, auf den Stufen. Eine Frau will dominiert werden. Eine Frau will in Ketten gelegt werden. Das kann man nicht jedem erklären. Ich versuchte, den Mann, der in diesem Bus vor mir saß, zu rekonstruieren. Ein verbrauchter alter Schönling. Den Rhythmus des Körpers erkannte ich nicht wieder. Aber den Blick ja. Die Stimme auch. – Wo geht’s hin ? – Nach Pasteur. – Was hast du in Pasteur vor ? – Jetzt übertreibst du aber. – Hast du Kinder ? – Einen Sohn. – Wie alt ? – Zweiundzwanzig. Und du, hast du Kinder ? – Wie heißt er ? – Mein Sohn ? Damien. Und du, hast du Kinder ? Igor Lorrain nickte. Er betrachtete durchs
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