Glücklich die Glücklichen
– Hervorragend, sagte Lionel. – Wenn wir sterben, Anne-Laure und ich, wird die Bilanz apokalyptisch sein. Aber wen kümmert schon die Bilanz ? Ich scheiß drauf, dass ich mein Leben versaut habe. Im September will ich mit Judo anfangen. – Ich will auch Nudeln, sagte Antoine, der wiederaufgetaucht war. – Du hast schon gegessen, Mann, seid ihr nervig, geh wieder ins Bett, brüllte Robert. – Warum kriegt Simon noch mal was zu essen ? – Weil er zwölf ist. – Das überzeugt ihn bestimmt, mischte ich mich ein. Robert schnappte sich einen Teller und schmiss eine Handvoll Spaghetti drauf. – Keine Soße, nur Parmesan, sagte Antoine. – Los, zisch ab. Robert machte noch eine Flasche Brunello auf. Viel sagst du ja nicht, sagte ich zu Lionel. Er machte ein seltsames Gesicht. Er schaute in sein Glas und ließ die Neige darin kreisen. Dann verkündete er mit Grabesstimme, Jacob ist in der Geschlossenen. Darauf folgte ein Schweigen. Er sagte, er ist nicht in London, sondern in einer Klinik in Rueil-Malmaison. Kann ich mich auf eure Verschwiegenheit verlassen ? Kein Wort zu Anne-Laure, Odile oder sonst wem. Robert und ich sagten, natürlich. Natürlich. Robert schenkte Lionels Glas wieder voll. Er trank ein paar Schlucke nacheinander. – Erinnert ihr euch an seinen Hang zu ... seine Schwärmerei für ... für Céline Dion ? Kaum hatte er den Namen ausgesprochen, prustete Lionel speichelsprühend los, er konnte es nicht unterdrücken, Tränen in den roten Augen, den Körper von Krämpfen geschüttelt. Wie versteinert sahen wir ihn so lachen. Er versuchte, noch etwas zu sagen, aber es wirkte, als könnte er bloß den Namen wiederholen, wieder und wieder, wenn auch nicht vollständig, mit erstickter Stimme, die jedes Mal von einem tragischen Gelächter überrollt wurde. Er trocknete mit der ganzen Handfläche seine Tränen, man konnte nicht recht sagen, woher sie kamen, vom Lachen oder vom Weinen. Nach einer Weile beruhigte er sich wieder. Robert klopfte ihm auf die Schulter. Wir blieben so sitzen. Alle drei um den Tisch. Ohne zu begreifen, ohne zu wissen, was wir tun sollten. Dann stand Lionel auf. Er ließ den Wasserhahn an der Spüle laufen und klatschte sich mehrmals das Gesicht ab. Dann drehte er sich zu uns und sagte, sichtlich um Beherrschung ringend, Jacob hält sich für Céline Dion. Er ist überzeugt davon, tatsächlich Céline Dion zu sein . Ich wagte nicht, Robert anzusehen. Lionel hatte den zweiten Satz mit äußerstem Ernst ausgesprochen und sah uns entsetzt an. Ich dachte, solange ich Robert nicht anschaue, kann ich die Miene des Mitgefühls halten. Solange ich Robert ignoriere, kann ich die schmerzerfüllte Maske halten, die Lionel braucht. – Er war das fröhlichste Kind der Welt, sagte Lionel. Das einfallsreichste. Er baute sich Landschaften in seinem Zimmer, ganze Archipele, einen Zoo, einen Parkplatz. Er veranstaltete alle möglichen Vorführungen. Nicht nur Musik. Er hatte einen Laden mit Spielgeld. Er schrie, der Laden ist geöffnet ! Keine Ahnung warum, aber die Erwähnung dieses Ladens stürzte Lionel in ein bekümmertes Sinnieren. Er fixierte einen Punkt auf dem Fliesenboden. Dann sagte er: Du hast recht, Glücklichsein ist Veranlagungssache. Vielleicht sollte man als Kind lieber nicht so veranlagt sein ? Das frage ich mich. Vielleicht ist es gar nicht gut für das Leben, wenn man in der Kindheit glücklich ist ? Während ich Lionel betrachtete, wie er mitten in der Küche stand, die Hosen zu hoch gezogen, das Hemd schlecht reingesteckt, dachte ich, es braucht nur wenig, um einen Mann verwundbar aussehen zu lassen. Robert hinter mir sagte, komm, setz dich wieder hin, Alter. Ich beging den Fehler, mich umzudrehen. Eine Sekunde kreuzten sich unsere Blicke. Ich weiß nicht mehr, wer von uns beiden als erster geplatzt ist. Wir krümmten uns am Tisch, erstickten vor Lachen. Ich weiß noch, dass ich nach Roberts Arm griff, damit er um Gottes willen aufhörte, und sein unkontrolliertes Prusten habe ich immer noch im Ohr. Wir standen auf, immer noch lachend, und flehten Lionel an, uns zu verzeihen. Robert nahm Lionel in die Arme, ich hängte mich dran, und wir drückten ihn wie zwei beschämte Kinder, die sich in den Röcken ihrer Mutter verstecken. Dann machte Robert sich los. Es kostete ihn eine, wie ich mir vorstellte, Riesenkonzentration, wieder ein ernstes Gesicht aufzusetzen, und es gelang ihm. Er sagte, du weißt ja, dass wir uns nicht lustig machen. Lionel war großartig, er
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