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Glücklich die Glücklichen

Glücklich die Glücklichen

Titel: Glücklich die Glücklichen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yasmina Reza
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Zeig mal. – Nein, nein, das können wir uns sparen ! Ich versuche, das Kleid auszuziehen. Der Reißverschluss klemmt. Ich bin kurz davor, das Ganze zu zerreißen. Ich verlasse die erstickende Höhle der Kabine, hilf mir mal beim Ausziehen, Marguerite ! – Lass dich doch mal anschauen. Du siehst sehr gut aus ! Was gefällt dir daran nicht ? – Gar nichts. Alles schrecklich. Schaffst du es ? – Und die Bluse ? – Ich hasse Rüschen. – Sind doch gar keine dran. – Doch. – Warum bist du so nervös, Jeannette ? – Weil ihr mich zu etwas Widernatürlichem zwingt, du und Odile. Diese Einkäufe sind eine Qual. – Der Reißverschluss hat sich verhakt. Zappel nicht so herum. Ich fange an zu weinen. Das kommt ganz plötzlich. Marguerite fuhrwerkt an meinem Rücken herum. Ich will nicht, dass sie etwas merkt. Das ist albern. Jahrelang schluckt man all seine Tränen runter, und dann heult man ohne Grund in einer Umkleidekabine bei Franck und Söhne los. – Alles in Ordnung ?, fragt Marguerite. Sie hat ein feines Gehör. Sie irritiert mich, sie merkt alles. Unterm Strich sind mir Menschen lieber, die nichts merken. Da braucht man sich nicht zu erklären. – Nicht bewegen, sagt Marguerite, gleich hab ich’s. In einem Buch von, ich glaube, Gilbert Cesbron fragt eine Frau ihren Beichtvater, ob man dem Kummer nachgeben oder dagegen ankämpfen und ihn unterdrücken soll. Die Antwort des Beichtvaters lautet, es nutze nichts, das Weinen zu unterdrücken. Der Kummer würde sich nur irgendwo verkriechen. – Geschafft, triumphiert Marguerite. Ich flüchte in die Kabine, um mich zu befreien. Ich ziehe mich wieder an und versuche, mein Gesicht zu beleben. Das Kleid rutscht vom Bügel und fällt runter, ich hebe es auf und lasse es wie einen Lappen auf dem Hocker liegen. Auf der Straße appelliere ich an Marguerite, sie soll das Projekt, mich zum Schick zurückzuführen, einfach aufgeben. Meine Schwägerin bleibt vor jedem Schaufenster stehen. Kleidung, Schuhe, Lederwaren, selbst Unterwäsche. Nun wohnt sie allerdings auch in Rouen, die Ärmste. Ab und zu versucht sie noch, mich zu motivieren, aber es ist offensichtlich, wer hier Lust auf den Laden hat, sie nämlich, sie will eine Tasche berühren, ein Kleidungsstück anprobieren. Ich sage zu ihr, das würde dir gut stehen, gehen wir mal rein. Sie antwortet, o nein, nein, ich habe schon zu viel unnützes Zeug, ich weiß gar nicht mehr, wohin damit. Ich beharre, ist doch hübsch, dieses Jäckchen, das passt zu allem. Marguerite schüttelt den Kopf. Ich fürchte, aus Feingefühl. Das finde ich schier zum Verzweifeln, zwei Frauen, die an einem Spalier von Boutiquen entlangmarschieren und nichts wollen. Ich wage Marguerite nicht zu fragen, ob es einen Mann in ihrem Leben gibt (ein blöder Ausdruck, was soll das heißen, einen Mann in seinem Leben haben ? Ich habe einen, auf dem Papier, und in Wahrheit habe ich keinen). Wenn es einen Mann in deinem Leben gibt, fragst du dich die idiotischsten Dinge, wie gut dein Lippenstift hält, welche Form der BH hat, welche Farbe die Haare. Das beschäftigt einen. Das macht gute Laune. Vielleicht hat Marguerite ja solche Sorgen. Ich könnte sie danach fragen, aber ich fürchte eine Enthüllung, die mir weh täte. Ich rechne schon seit so vielen Jahren mit keiner Verwandlung mehr. Als Ernest im Zenit seiner Laufbahn stand, prüfte er immer mein Erscheinungsbild. Das hatte nichts mit Aufmerksamkeit zu tun. Wir gingen oft aus. Ich gehörte zum Dekor. Neulich war ich mit meinem Enkel Simon im Louvre, bei den italienischen Renaissance-Gemälden. Dieser Kleine ist mein Sonnenschein. Er interessiert sich für Kunst, mit zwölf Jahren. Als ich auf den Bildern jene Gestalten bemerkte, die sich in dunklen Gewändern dicht an den Wänden entlangdrücken, die grausamen Übeltäter aus alten Zeiten, die gebückt auf ein ungewisses Ziel zumarschieren, da fragte ich mich, was wird aus diesen bösen Seelen ? Sind sie aus allen Büchern verschwunden, ganz ungestraft ? Ich dachte an Ernest. Ernest Blot, mein Mann, ist wie diese Schatten des Abends. Gerissen, verlogen, gnadenlos. Ich muss ja selber verdreht sein, dass ich von diesem Mann geliebt werden wollte. Frauen fliegen auf fürchterliche Männer, weil fürchterliche Männer immer Maske tragen, als gingen sie zum Ball. Sie kommen mit Mandolinen und Partykostümen. Ich war hübsch. Ernest war besitz­ergreifend, ich nahm seine Eifersucht als Liebe. Ich ließ achtundvierzig Jahre

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