Gluecklich, wer vergisst
Braunsperger zu reden.
„Ich habe ihn immer für einen gutmütigen Trottel gehalten, den Mama eben ausnehmen konnte wie eine Weihnachtsgans. Wahrscheinlich hat sie ungefähr zur gleichen Zeit Sex mit ihm gehabt, wie mit deinem, pardon, unserem Vater. Ihre wilden Jahre! Sie hat in ihrem Leben vier Männer gehabt, drei davon im gleichen Jahr. Und sie hat den Braunsperger sicher in dem Glauben gelassen, dass er mein Vater sein könnte. Sie war und ist auf seine Unterstützung angewiesen. Im Dorf munkelt man, dass er sich sogar ihretwegen scheiden lassen wollte. Aber sie hat seine Heiratsanträge abgelehnt. Heute ist er ein ehrwürdiger Witwer. Ich würde ihm wünschen, dass er sie endlich rumkriegt. Aber ich bin überzeugt, dass er es nicht schaffen wird. Eher angelt sie sich unseren Papa.“
Ich zuckte zusammen. Zwang mich dazu, an diesen Arzt zu denken. Für ihn musste eine Welt zusammengebrochen sein, als er erfahren hatte, dass Victor Franzis Vater ist.
„Vor allem liebt unser netter Doktor meinen Mario. Er war bei seiner Geburt dabei. Mario war ein sehr schwieriges Kind. Nur der Doktor konnte mit ihm gut umgehen. Mama und ich sind oft wegen ihm verzweifelt. Er war hyperkinetisch, behaupteten zumindest die Psychologen, zu denen wir ihn schleppten.“
Hyperkinetisch? So ein Quatsch, dachte ich, aber unterdrückte auch diese Bemerkung.
„Walpurga war Mario gegenüber immer reserviert. Sie war keine liebe Omi, sondern sehr streng. Ich mache mir heute Vorwürfe, dass ich ihr so lange die Erziehung von Mario überlassen habe. Aber ich war so verdammt jung und eindeutig überfordert mit diesem lebhaften Kind.“
Die Justizbeamtin trat von einem Fuß auf den anderen und deutete ungeduldig auf ihre Uhr.
Ich schenkte ihr ein betörendes Lächeln, streichelte noch einmal Franzis Hand und fragte: „Und wo war Mario an jenem Abend?“
„Lass Mario aus dem Spiel!“, schrie sie mich an. „Er war natürlich in der Bar, unten am See.“
„Ich weiß nur, was ihr mir erzählt habt. Das meiste davon ist frei erfunden“, murmelte ich. Andererseits war ich froh, dass sie ihren Sohn zu beschützen versuchte. Liebte sie ihn doch mehr, als ich bisher angenommen hatte?
„Leider hat er für die Tatzeit kein hieb- und stichfestes Alibi, das hat mir Gustav gestern Abend geflüstert“, sagte ich leise.
„Steht dieser Trottel noch immer auf dich?“ Sie grinste hämisch. „Ich hätte ihn haben können, aber ich habe ihn dir überlassen. Ich war mein Leben lang viel zu großzügig, was Männer betrifft.“
Ich stellte mir vor, wie die beiden sich umarmten und küssten und konnte ihr plötzlich nicht mehr in die Augen sehen. Auch sie schaute konsequent auf den Steinboden. Als die Justizbeamtin unsere Unterhaltung mit einem energischen „Jetzt ist Schluss“ beendete, war ich fast erleichtert.
Unser Abschied fiel relativ kühl aus. Franzi umarmte mich nur flüchtig. Kein beruhigendes, optimistisches, Hoffnung versprechendes Wort, kein besänftigender Blick von mir. Ich versprach ihr, mich im Laufe der Woche noch einmal anschauen zu lassen, und verließ ziemlich überstürzt die Justizanstalt.
Franzis Geschichten hatten nicht gerade dazu beigetragen, das Durcheinander in meinem Kopf zu ordnen. Verwirrt stieg ich in Marios Wagen.
In Linz herrschte dichter Berufsverkehr. Außerdem regnete es in Strömen. In den Verkehrsnachrichten warnten sie vor Aquaplaning. Als die letzte Ampel der Ausfahrtsstraße auf Grün wechselte, gab ich Gas. Der Motor heulte auf. Der Wagen geriet ins Schleudern. Ich nahm rasch Gas weg, schlitterte trotzdem gefährlich nahe an einem Brückengeländer vorbei. Die Scheibenwischer quietschten, wurden der Wassermassen kaum Herr.
Auf der Westautobahn wurde es noch schlimmer. Nebel. Dichter Nebel. Ich schlich auf der ersten Spur dahin, orientierte mich, so gut ich konnte, am Mittelstreifen und zuckte jedes Mal zusammen, wenn mich irgendein Idiot mit hundertdreißig Sachen überholte.
Ich ließ mir noch einmal alles durch den Kopf gehen. Die Geschichten, die ich bisher zu hören bekommen hatte, stanken zum Himmel. Hielten mich hier alle nach wie vor für die kleine naive Joe?
Die Scheinwerfer eines großen Wagens hinter mir blendeten mich seit einer ganzen Weile im Rückspiegel. Mein erster Impuls war, schneller zu fahren, mich in die milchig weiße Nebelsuppe zu flüchten. Wovor hatte ich mehr Angst? Vor dem Nebel oder vor einem Verfolger? Während ich über diese Frage nachdachte, wurden meine
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