Gluecklich, wer vergisst
er allerdings bald Schiss. Obwohl mein Bruder ja nicht gerade ein Kraftbündel ist, hat ihn Philip nach seinem sechzehnten Geburtstag nicht mehr angerührt. Ich habe noch mit achtzehn Ohrfeigen von ihm bekommen. Erst als ich irgendwann einmal zurückschlug, hörte er auf, mich zu verdreschen. Dafür ließ er seine Wut umso öfter an Mama aus. Wir konnten es nicht verhindern. Sie sprach natürlich nie mit uns darüber. Wir sahen aber ihre verheulten Augen, ihre gesprungenen Lippen und die blauen Flecken auf ihren Armen. Ach, Joe, du hast ja keine Ahnung, mit was für einem Arschloch wir fast vierzig Jahre zusammengelebt haben. Wenn ihr im Sommer da wart, hat er sich immer zusammengerissen.“
„Und Mario? Hat er ihn auch misshandelt?“
„Den habe ich vor ihm beschützt, so gut ich konnte. Ich weiß natürlich nicht, was er ihm angetan hat, wenn ich nicht da war.“
Und du warst fast nie da, dachte ich.
„Mama hatte mir versprochen, meinen kleinen Liebling von ihm fernzuhalten. Ich kann nur hoffen, dass sie Wort gehalten hat. Mario spricht nicht gern über seine Kindheit. Aber ich vertraue Albert, so komisch das klingen mag. Er hat Philip einmal in meiner Gegenwart gedroht, ihn umzubringen, falls er den Kleinen auch nur anfasst. Und Philip hatte tatsächlich Angst vor Albert.“
Über lange Zeit internalisierte Wut kann zu wahnhaften Vorstellungen, ja zu einer Art paranoider Störung führen. Es wäre nicht das erste Mal, dass ein aggressionsgehemmter Mensch zur Gewalt getrieben wurde. Gewalt ohne Vorsatz, ein Schlag von blinder Wut getrieben … Es war kein hinterlistig geplanter Mord, dachte ich.
„Solange ich den Baron für meinen wahren Vater hielt, habe ich ihn auf ein Podest gestellt. Als kleines Mädchen habe ich ihn richtiggehend verehrt. Meine Mutter habe ich damals gehasst. Ich habe sie für seinen Tod verantwortlich gemacht. Und wer weiß, vielleicht trägt sie ja zumindest Mitschuld an seinem Selbstmord. Sie hat mich immer runtergemacht. Albert, ihren Prinzensohn, hat sie nach Strich und Faden verwöhnt. Ich war eindeutig das Aschenbrödel in unserer Familie. Aber ich war total abhängig von ihr. Bin es bis heute. Ihre Meinung von mir, ihre Ansichten ganz allgemein, alles was sie sagt, denkt oder fühlt, ist für mich wichtig. Das kannst du sicher nicht verstehen.“ Sie begann wieder zu weinen.
„Natürlich verstehe ich das“, sagte ich beruhigend. „Alle unsere Ängste, Wünsche, Träume, Hoffnungen und Abneigungen verdanken wir unseren lieben Müttern. Wir müssen ihnen nicht unbedingt ähnlich werden, auch nicht im Alter, aber wir können ihnen nicht entkommen. Niemals! Selbst der aggressivste Protest gegen sie ist nichts anderes als ein hilfloser Ausbruchsversuch …“
Ich hatte den Eindruck, dass Franzi meinen dramatischen Worten keinerlei Bedeutung zumaß. Aber wenigstens hörte sie zu weinen auf. Sie zündete sich eine Zigarette an und sagte: „Du hast leicht reden. Du bist eine typische Vatertochter, ehrgeizig, leistungsorientiert, dynamisch, erfolgreich in jeder Hinsicht. Auch bei Männern?“
„Wie man’s nimmt“, sagte ich. „Aber es geht nicht um mich. Erzähl mir lieber von diesem Doktor Braunsperger. Ich erinnere mich nicht an ihn.“
„Ach, Joe, hör auf, alle möglichen Leute zu verdächtigen. Doktor Braunsperger ist unser Hausarzt und ein armer Tropf. Er war Mamas Jugendliebe, liebt sie bis heute. Als sie mit dem Baron verheiratet war, hatte sie eine kurze Affäre mit ihm. Mehr war nie zwischen den beiden. Ich mag ihn zwar nicht, finde ihn aber irgendwie rührend. Ein alter Haudegen, ein typischer Salzkammergutler, Sportler, Bergsteiger, Naturbursche. Deftig, nett, ein bisschen faschistoid … Früher hing er im Sommer ständig auf unserem Badeplatz herum. Kannst du dich wirklich nicht an ihn erinnern? Wenn sich Walpurga am späten Nachmittag aus ihren billigen Sommerkleidern schälte und ihm ihren Prachtbusen entgegenstreckte, bekam er jedes Mal große Glupschaugen. Zu dieser Zeit war er brav verheiratet. Bestimmt hätte er auch damals nichts dagegen gehabt, sie zu vögeln. Doch sie war Philip hörig. Sexuell spielte sich, nach ihrer Hochzeit mit Philip, absolut nichts mehr mit anderen Männern ab, auch nicht mit deinem …“, sie schluckte, „… mit unserem Vater.“
Betreten schaute ich zu Boden. Verdammte Scheiße. Warum kriegte ich das nicht hin? Warum konnte ich mich nicht damit abfinden, eine Halbschwester zu haben? Zum Glück fuhr Franzi fort, über
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