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Gluecklich, wer vergisst

Gluecklich, wer vergisst

Titel: Gluecklich, wer vergisst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edith Kneifl
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seiner Hose, dem verzerrten Ausdruck in seinem Gesicht. Ich hatte vorher noch nie einen Toten gesehen.“
    „Du Arme“ sagte ich mitfühlend.
    „Später habe ich erfahren, dass er sich bei dem Sturz das Genick gebrochen hat. Er dürfte mit dem Hinterkopf auf den marmornen Kaminsims geknallt sein. Jede Hilfe wäre zu spät gekommen. Ihm war nicht mehr zu helfen. Ich habe ihn nicht angefasst, solange er gelebt hat. Ich habe seine Hand erst aus dem Feuer genommen, als er sich nicht mehr gerührt hat. Dann habe ich versucht, den Schürhaken aus seinen Eingeweiden zu ziehen. Ich weiß nicht, warum ich das getan habe. Ich habe wie in Trance gehandelt. In diesem Moment sind Mama und Doktor Braunsperger ins Zimmer gekommen.“
    Bei unserer Begrüßung und am Anfang unseres Gesprächs hatte sie relativ gefasst und vernünftig gewirkt, kaum hatte sie jedoch ihre Mutter erwähnt, fing sie zu weinen an, verbarg ihr Gesicht in den Händen und stammelte leise, unverständliche Satzfetzen.
    „Bitte reiß dich zusammen, Franzi. Wir haben nicht viel Zeit.“ Ich reichte ihr ein Papiertaschentuch. Sie schnäuzte sich lautstark.
    „Gehört dieser Doktor Braunsperger inzwischen zu eurer Familie?“
    „Er ist Mamas treuester Verehrer“, stammelte sie.
    „Und was ist dann passiert?“
    „Für die beiden muss es so ausgesehen haben, als würde ich Philip den Schürhaken gerade in die Eier gerammt haben. Sie haben sich auf mich gestürzt, mich von ihm weggerissen.“ Ihre letzten Worte gingen in heftigem Schluchzen unter.
    Der wahre Grund, warum jemand außer Fassung gerät, sind meist Schuldgefühle, dachte ich, legte wieder meine Hand auf ihre und flüsterte: „Erzähl weiter, bitte!“
    „Angeblich bin ich hysterisch geworden, habe wie am Spieß geschrien. Mama hat mir eine Ohrfeige gegeben. Nur um mich runterzuholen natürlich. Ja, und dann hat Doktor Braunsperger Philip untersucht. Mama und ich haben den Raum verlassen. Irgendwann hat sie die Polizei angerufen.“
    „Und Albert hat von alledem nichts mitgekriegt?“
    „Nein, er hat geschlafen. Er schläft mit Ohropax.“
    „Es war doch erst früher Abend.“
    „Er schläft, wann immer ihm nach Schlaf ist. In der Nacht ist er meistens wach und geistert im Haus herum.“
    „Das habe ich auch schon bemerkt“, murmelte ich.
    Sie nickte ungeduldig und kreischte mich dann völlig unvermittelt an: „Soll ich dir mal was über meinen Stiefvater erzählen? Diese Geschichten wirst du von meiner Frau Mutter nicht zu hören bekommen. Philip hat Jahre lang nicht mit ihr geschlafen, sie ist ihm bald zu alt und zu fett gewesen. Er hat junge Mädchen bevorzugt. Es gab Gerüchte, dass er die Mädels, die bei ihm Gesangsstunden genommen haben, belästigt hat. Walpurga konnte es meistens so hinbiegen, dass die Mädchen als in den Herrn Kammersänger verliebte Lügnerinnen dastanden. Vor kurzem ist es jedoch beinahe zu einem echten Skandal gekommen. Angeblich hat er eine seiner minderjährigen Klavierspielerinnen dazu gezwungen, ihm einen zu blasen. Und was hat meine Mutter gemacht? Hat sie ihn rausgeschmissen? Nein, sie hat versucht, diese Sauerei zu vertuschen, hat der Familie Geld gegeben, das sie sich vom Braunsperger ausgeborgt hat …“
    „Das darf nicht wahr sein.“
    „Doch, das ist die Wahrheit. Es ist ihr trotzdem nur teilweise gelungen, diese Geschichte unter den Teppich zu kehren. Inzwischen weiß fast der ganze Ort Bescheid. Aber es kam eben nie zu einer Anzeige.“
    „Scheiße!“
    „Du sagst es! Philip hatte außerdem eine sadistische Ader. Als ich klein war, verlangte er mir die absurdesten Mutproben ab. Zum Beispiel musste ich auf der Balustrade unserer Terrasse balancieren. Und er lachte sich schief, wenn ich stolperte oder mir vor lauter Angst in die Hose machte. Wenn es dunkel wurde, spielte er gern Verstecken mit mir, drüben im baufälligen Trakt des Schlosses. Ich war damals fünf Jahre alt und fürchtete mich zu Tode. Manchmal, wenn ich angeblich schlimm gewesen war, sperrte er mich abends in der Scheune ein und ließ mich eine Stunde in der Finsternis schmoren. Als ich acht war, zeigte er mir das Verlies, in dem sich mein vermeintlicher Vater umgebracht hatte. Willst du noch mehr hören?“
    Ich reagierte nicht.
    „Wenn er getrunken hatte, schlug er zu. Er schlug nicht nur mich und Albert, sondern schreckte auch nicht davor zurück, seine Frau zu verprügeln. Nicht nur einmal musste Mama wegen eines blauen Auges eine Klavierstunde absagen. Vor Albert hatte

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