Glückliche Ehe
dreißig E-Mails ähnlichen Inhalts geschrieben. Meistens war alles glattgegangen, und selten war seine sadistische und selbstmitleidige Seite so deutlich zum Vorschein gekommen. Die Menschen, die Margaret mochten und ihr nahestanden, waren ihm gegenüber nett und umkompliziert. Sein Halbbruder und seine Mutter allerdings waren da schwieriger. Nachdem Leo während der tristen Zeit von Margarets Krankheit durch physische und emotionale Abwesenheit geglänzt hatte, schien er dieses dramatische Finale plötzlich spannend zu finden und so viel wie möglich davon mitkriegen zu wollen. Enriques alte Mutter bestand darauf, mit todtraurigem Gesicht zu erscheinen, um Mitteilung über ihr eigenesLeiden zu machen. »Ich ertrage das nicht«, beschied sie Enrique regelmäßig.
Aber das waren alte Schlangen, denen die Giftzähne längst in der Therapie gezogen worden waren. Enrique war zu traurig und zu erschöpft, um gegen die krankhafte Grandiosität seiner narzisstischen Familie anzukämpfen. Und er beschwerte sich auch nicht mehr über die dürftige emotionale Unterstützung, die Margarets Eltern zu bieten hatten. Dorothys und Leonards panische Angst hatte er schon erkannt, als sie am Tag nach der Diagnose ins Krankenhauszimmer ihrer Tochter gekommen waren. Sie waren in drei Meter Entfernung stehengeblieben, gleich an der Tür, keine Umarmung, kein Begrüßungskuss. Enrique akzeptierte, dass er derjenige war, der die Familie während dieses beängstigenden und traurigen Geschehens emotional versorgen müsste. Derjenige, der Stärke und Ruhe auszustrahlen hatte, wenn das Leben zu schwierig wurde, wie er sich auch stets darauf verlassen hatte, dass Margarets Eltern Geld zur Verfügung gestellt sowie Stabilität geboten hatten, und er sich von seinen Eltern künstlerischen Ehrgeiz abgeschaut hatte.
Er war fünfzig, und niemandem war klar, dass er die heroische Haltung so vieler Figuren aus zeitgenössischen Büchern und Filmen für sich reklamieren konnte – und am wenigsten war ihm das selbst bewusst. Schriftsteller waren Lügner, dachte er, wenn es um so etwas ging. Sie machten Schurken aus denen, die sie enttäuscht oder missachtet hatten, und sich selbst zu Helden. Enrique wusste, dass er sich überlegen fühlen wollte, indem er sich so rührend um Margaret und seine Söhne kümmerte und sich so tapfer Margarets Tod stellte. Er wollte sich selbst besser aussehen lassen und alle anderen verachten. Stand ihm diese armselige Form von Eitelkeit nicht zu, als Ausgleich für das, was er verloren hatte, gerade verlor und für immer verlieren würde? Sein Halbbruder würde heute Nacht die Frau vögeln, die er liebteoder, wie es öfter der Fall war, nicht zu lieben imstande war. Margarets Eltern hatten noch zwei weitere Kinder und acht Enkel, deren Geburten und erste Lebensjahre sie gemeinsam hatten erleben und feiern können. Noch lange nach Margarets Tod würden Dorothy und Leonard einander haben, ihre sechzigjährige Ehe, die in einer Routine aus Hickhack, Kreuzfahrten und tiefer, liebender Abhängigkeit noch immer bestand und gedieh. Enrique verlor die Partnerin seiner Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, gerade in dem Moment, in dem er sich eine gemeinsame Choreographie für sie beide wünschte wie nichts anderes. Wenn Gregory oder Max heiratete, würde Enrique allein feiern oder mit einer Partnerin, die mit der Entstehung seiner Söhne nichts zu tun hätte. Wenn Margarets Enkel zur Welt kommen würden, würde da niemand sein, mit dem er das Wunder teilen konnte, dass ihr Baby ein Baby bekam. Ja, er verübelte ihnen allen, dass er es ihnen leichter machen sollte, einen Teil ihrer Welt zu verlieren, während ihm das Zentrum seiner Welt in den Händen zerschmolz, ihm durch die Finger rann und auf den Boden tropfte. Bald, ganz bald schon würde von seinem Herzen nur noch eine Pfütze übrig sein.
Aber nein, er hatte nicht die geringste Absicht zu jammern, während Margaret starb, und glaubte auch nicht, dass irgendjemand, der ihn enttäuscht, verraten, absichtlich missverstanden hatte, jetzt vor lauter Mitleid Selbstkritik üben und sich bei ihm dafür entschuldigen würde, dass er, Enrique, ihrer aller Schrammen verpflastern sollte, während er selbst verblutete. Bernard würde auftauchen und sich feiern lassen und Margarets Abschied zu einer Episode in dem Memoirenbestseller machen, den er eines Tages schreiben würde, und in seiner popularisierenden, kitschigen Schreibe würden Enrique und Margaret zu Figuren verzerrt
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