Glückliche Ehe
Aber er war vorbereitet, weil er sich selbst immer wieder diese Frage gestellt hatte, seit Margaret ihn gebeten hatte, mit ihr zusammen ihren Abschied, ihren Tod und ihr Begräbnis zu organisieren. »Ich würde gern nein sagen, weil ich damit nicht besonders glücklich bin. Aber ich lebe mit Margaret zusammen, seit ich einundzwanzig war, fast dreißig Jahre, und ich liebe sie sehr, allerdings Fakt ist nun mal, dass sie ein Kontrollfreak ist. Das hat sie von ihrer Mutter, die auch sehr gutherzig und sehr, sehr kontrollierend ist.« Natalie Ko, die vielleicht an ihre fordernde chinesische Mutter dachte, lächelte traurig. »In unserem Zusammenleben war das manchmal toll und manchmal, ehrlich gesagt, nicht so toll. Im Umgang mit ihrer Krankheit hat ihr dieser Wesenszug geholfen. Sie hat mit aller Kraft gegen die Krankheit gekämpft –«
»Ich weiß«, unterbrach ihn die Ärztin. »Ich habe mir ihre Krankengeschichte angesehen. Es war eine schwere Zeit für sie. Und sie hat alles versucht. Mehr als alles.«
Enrique nickte, einen Moment lang nicht in der Lage zu sprechen, weil ihn das Mitleid beim Gedanken an das, was Margaret erduldet hatte, schier überwältigte. »Sie hat gegen die Krankheit gekämpft«, sagte er mit der sonoren Stimme eines Fernsehsprechers, während er die Gefühle ins hinterste Dunkel seines Herzens zurückdrängte, »um sie zukontrollieren. Um sie zu besiegen. Und jetzt, wo sie weiß, dass sie den Kampf verlieren wird, dass der Tod gewiss und nah ist, will sie bestimmen, wie und wann sie stirbt. Das ist alles, was sie noch kontrollieren kann. Ja, es entspricht ihrer generellen Wesensart.«
Die Ärztin schluckte und nickte. Sie räusperte sich. »Wie gesagt, es ist absolut vernünftig. Aber ich musste fragen.« Sie ging zur Tür und erklärte ihm noch, wie und wann die Medikamente geliefert würden und dass täglich Hospizpflegekräfte vorbeikämen. Sie gab ihm eine Karte mit Telefonnummern, unter denen er sie jederzeit erreichen könne, falls irgendetwas sei. Enrique öffnete die Tür, und weil die Ärztin so nett und offen zu Margaret gewesen war und weil sie gemeinsame Freunde hatten, beugte er sich vor, um ihr einen Wangenkuss zu geben. Aber sie drehte ihren Kopf, reckte sich und drückte ihren Mund auf seinen. Sie schloss die Augen und öffnete die Lippen. Der Kuss war warm und ein wenig feucht und kein Kuss, den Freunde sich gaben. Er hatte das Gefühl, wenn er ihr jetzt irgendwie entgegenkam, würden sie hier und sofort Sex haben.
Enrique zog sich abrupt zurück, in erster Linie erschrocken. Und Natalie Ko guckte so verdutzt, als ob gerade jemand anders an ihrer statt gehandelt hätte. Sie verschwand eilig. Von ihrer ernsten, förmlichen Art keine Spur mehr. So wie die strenge, unerbittliche Gertie plötzlich weich und gefügig geworden war. Noch so eine Ironie des Schicksals, dachte Enrique: dass er derzeit auf Frauen anziehender wirkte als je zuvor und als es je wieder der Fall sein würde. Dabei war ihm selbst das Verlangen abhandengekommen. Er wusste, dass er Margaret ebenso um seinetwie um ihretwillen so aufopfernd pflegte, aber für diese reiferen Frauen musste es so sein, als wäre er der Mann, den sie sich in ihren Kleinmädchenvorstellungen von Liebe erträumt hatten. Und es war ja selbst für eine Hospizärztin so vielangenehmer, sich mit seiner hingebungsvollen Fürsorge zu beschäftigen als mit Margarets Leiden.
»Montag geht«, brüllte ihm Gertie aufgeregt ins Ohr. »Wir kommen um halb vier. Und können bis halb fünf bleiben, aber dann müssen wir gehen.«
Enrique setzte ein sarkastisches Grinsen auf, aber da war niemand, der es würdigen konnte. »Margaret wird nur etwa eine Viertelstunde für euch haben. Um fünf kommt eine sehr gute alte Freundin von ihr aus Sommercamp-Zeiten, und das wird ein schwerer Abschied. Ich will Margaret nicht überanstrengen. Sie braucht Pausen zwischen diesen Besuchen. Für sie ist das, na ja, ermüdend.«
»Klar.« Beschämt und betroffen pflichtete Gertie ihm hastig bei. »Natürlich. Wir sind um halb vier da und gehen nach einer Viertelstunde. Können wir irgendwas mitbringen? Braucht ihr irgendwas?«
Enrique fühlte, dass seine Augen brannten, vielleicht, weil er sie fragen wollte, ob sie nicht ein Heilmittel mitbringen könnten. Aber vielleicht schwemmte ja auch er Toxine aus. »Nein, wir haben alles. Also, Montag um halb vier dann.«
Enrique hatte an diesem Tag und am Vortag fast zwanzig solcher Telefonate geführt und rund
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