Glückliche Ehe
Welt wirklich von Nutzen sein konnte. Also schien ihm seine akute Verarmungsangst nur realistisch. Er ging davon aus, dass diese Angst seine ureigene war. Er war zu jung und hatte zu wenig auf der Couch gelegen, um seine Mutter Rose dafür haftbar zu machen, dass sie sie ihm vererbt hatte.
Sie malte oft die finanzielle Katastrophe an die Wand. Sie ritt darauf herum, ganz egal, wie gut es ihr momentan ging, vermutlich weil es sie wiederum traumatisiert hatte, dass ihr Vater, ein Gemüsehändler, mehrfach Bankrott gemacht hatte und die Familie von heute auf morgen aus der Bronx nach Brooklyn und wieder zurück umziehen musste, als sie während der Großen Depression vor den Mietrückständen Reißaus genommen hatte. Enrique war nicht klar, dass seine Mutter sein Denken beeinflusst hatte, indem sie ständig ähnliche Kalamitäten beschworen hatte. Obwohl seine freischaffenden Eltern für bescheidene Hypothekenraten ein renoviertes altes Cape-Haus an der Küste von Maine bewohnten und seine Mutter an einem Roman arbeitete, für den sie einen Hunderttausend-Dollar-Vorschuss bekommen hatte, verfolgten sie beständig Alpträume, die von Obdachlosigkeit handelten – einer einsamen Privatinsolvenz, vor der sie kein moderner Roosevelt retten würde –, Horrorvisionen, die sie Enrique dank ihrer enormen Vorstellungs- und Ausdruckskraft aufs plastischste schilderte. Seine Mutter hätte eine hervorragende Verkäuferin abgegeben, vorausgesetzt,ihre Ware wäre Trauer und Verlust. Ohne sich die Konsequenzen und Einzelheiten bewusst gemacht zu haben, hatte Enrique sämtliche ihrer Ängste vor dem Niedergang und den tragischen Begleiterscheinungen einfach übernommen. Ihr ängstliches Gerede und die nahezu permanente Geldnot seines Vaters, seit dieser seinen Job aufgegeben hatte, um hauptberuflicher Schriftsteller zu werden, hatten Enriques widersprüchliches Verhältnis zum Geld geprägt: Ihm, dem jungen Mittelschichtsamerikaner, war nie an materiellem Wohlstand gelegen, und dennoch lebte er in der ständigen Angst, in Armut zu enden.
Er erinnerte sich, wie ihn seine Mutter zu Beginn der siebten Klasse beiseitegenommen hatte, um ihm zu erklären, dass sie und sein Vater ihm genau wie seinem Halbbruder – und wie sie es auch für seine Halbschwester getan hätten, hätte sie studieren wollen – das erste Collegejahr finanzieren würden. Das Geld für die restlichen drei Jahre aufzubringen wäre dann seine Sache. Mit zwölf hatte Enrique gar nicht gewusst, dass es etwas kostete, aufs College zu gehen. Er wusste auch nicht, wie man gleichzeitig studierte und dafür bezahlen sollte. Diese Ansage beunruhigte ihn. So sehr, dass er recherchierte, wie viel ein Studium kosten würde, was seine Sorge noch größer werden ließ. Zwei Jahre lang – bis er die Highschool zu schwänzen begann und das College daher ohnehin nicht mehr in Frage kam – zerbrach er sich den Kopf, wie er von seinem einzigen bezahlten Job, er belieferte die Nachbarn in ihrem Apartmenthaus mit der Sonntagsausgabe der New York Times , ein Harvard-Studium (wie es sein Vater für ihn vorsah) bezahlen sollte, zumal er pro Times nur zehn Cent bekam und nicht mehr als fünf Parteien als Kunden hatte gewinnen können. Seine Mutter lachte, wenn er sonntagmittags nach Hause kam und seine Version des berühmten Wirtschaftskrisensongs sang, den er von ihr gelernt hatte – »Zehn Cent die Woche bezahlen siemir, Gott, wie mich das deprimiert!« –, und er sagte ihr kein einziges Mal, dass er das Ganze gar nicht komisch fand. Er verstand seine Mutter dahingehend, dass er sein Studium größtenteils selbst zu finanzieren hatte, während sein Vater ihm aber grandiose Versprechungen machte, was er für ein Vermögen verdienen und Enrique hinterlassen würde. Seine Mutter warnte ihn, dass das Leben eines Schriftstellers, sprich das Leben von Guillermo und Rose, darin bestand, Obdachlosigkeit und Hunger zu ertragen und sich in einem Meer von Schulden an Treibholz zu klammern. Sie stellte klar, dass er von ihnen keine Hilfe erwarten konnte, wenn er erst einmal über Bord gesprungen war – und schon gar nicht, wenn er in ihrem lecken Rettungsboot blieb.
Als Enrique verkündete, er wolle die Highschool schmeißen, um seinen ersten Roman fertigzuschreiben (die Hälfte hatte er schon), erwartete er von seiner Mutter ein schlichtes, entsetztes Nein. Aber stattdessen sagte sie: »Wenn du Schriftsteller werden willst, ist das deine Entscheidung. Ich würde nie jemanden von dem
Weitere Kostenlose Bücher