Glückliche Ehe
angeschrien, und sie hätte geweint und es fertiggebracht, dass er sich schuldig fühlte. Wenn sein Vater irgendwie involviert gewesen wäre, dann wohl nur, indem er über den ganzen Vorfall gelacht oder irgendwelche Kommentare von höherer Warte abgegeben hätte, aber ganz bestimmt nicht als Fürsprecher seiner Frau. Doch Guillermos und Roses Ehe hatte nach vierzig Jahren mit einer Scheidung geendet. Nicht zuletzt dieses Faktum ließ Enrique zögern, ehe er befand, dass Leonards Loyalität zu Dorothy blind und verbohrt war. Er entschied sich dafür, es Leonard nachzutun und seine eigene Frau ebenso mannhaft zu verteidigen. Allerdings gelang ihm das nicht so gut. Leonard verteidigte die Befindlichkeit seiner Frau, als erklärte er eine Notstandssituation, die zu lindern oberstes Anliegen aller sein müsse; Enrique dagegen fragte nur schüchtern, ob nicht die Gefühle seiner Frau Vorrang haben sollten. Der eigentliche Zweck von Leonards Anruf – und das regte Enrique am meisten auf – war es, Enrique dazu zu bringen, Margaret dazu zu bringen, sich bei ihrer Mutter zu entschuldigen.
In seinem Kopf sammelte er wütende Argumente. Seine Frau war mit dem Tod konfrontiert; es stand ihr eine Operation bevor, die so beängstigend war, dass selbst die trockenen medizinischen Termini ihn schon ganz zittrig machten – und dennoch sollte sie sich entschuldigen? Wofür? Dass sie gesagt hatte, was sie fühlte, als ihre Mutter sich gedankenlos und unsensibel verhalten hatte? Natürlich meinte es Dorothy gut. Aber in der realen Welt – nicht im Paralleluniversumder Country-Clubs von Long Island, nicht in jener netten Welt des Privilegs, wo einem die erwachsenen Söhne und Töchter nur sorgsam gefilterte Informationen zukommen ließen, um die beunruhigenden Fakten ihres Lebens für sich zu behalten, nicht in dem bourgeoisen Paradies, das die Cohens für Dorothy mit den Mitteln der Verschwörung zu erhalten versuchten – in der realen Welt, in der Enrique lebte, reichte es nicht, es nur gut zu meinen. Man musste auch Gutes tun . Wenn Dorothy zu viel Angst davor hatte, sich wirklich mit Margarets Krankheit zu befassen, war das nur verständlich, aber dann sollte sie auch nicht den fundierten Behandlungsentscheidungen ihrer Tochter widersprechen.
Er redete sich ein, er wolle, dass Margaret selbst entscheiden könne, ob sie ihre Mutter anrief – ohne sich von ihrem Vater moralisch unter Druck gesetzt zu fühlen. Aber in Wahrheit wollte Enrique, dass Dorothy sich bei ihrer Tochter entschuldigte. So absurd und grausam es selbst in seinen eigenen Ohren klang: Er wollte, dass die einundachtzigjährige Dorothy endlich erwachsen wurde und zugab, dass sie einen Fehler gemacht hatte. Von diesen Gedanken war er immer noch blockiert, als Margaret verkündete: »Ach ja! Und ich habe das mit meiner Mutter übrigens wieder in Ordnung gebracht. Ich habe mich so mies gefühlt, also habe ich sie angerufen.«
»Aber du hast doch nichts falsch gemacht.«
»Ja, sie benimmt sich idiotisch, und sie hört mir nicht zu, nie, es ist wirklich unglaublich, aber andererseits … du weißt ja. Stell dir doch mal vor, wie das alles für sie sein muss, Puff. Ich bin ihre Tochter. Stell dir vor, Maxy oder Greg würde so was zustoßen. Und als ich mich entschuldigt habe, ist etwas richtig Tolles passiert. Sie hat etwas ganz Süßes gesagt. Verrückt, aber irgendwie süß.« Margaret erzählte, Dorothy habe erklärt, von jetzt an müssten sie einander bei jedem Gespräch zum Schluss sagen, dass sie sich liebten und dass einneues Kapitel ihrer Beziehung angebrochen sei. Ab jetzt würden sie offen zueinander sein und sich gegenseitig sagen, was sie fühlten. »Sie war so lieb«, sagte Margaret und setzte mit einem schiefen Lächeln hinzu: »Ich hoffe, es stimmt. Wir werden ja sehen.«
Von da an beendeten sie jedes Gespräch mit »Ich hab dich lieb«, aber Margaret konnte ihre Mutter nicht zu ihrer Vertrauten machen, während sie um ihr Leben kämpfte, und sie versuchte es auch nicht. Dorothy ihrerseits beklagte sich nicht mehr darüber, ausgeschlossen zu sein. Die Krankheit hob ihre Unterschiedlichkeit nicht auf, aber sie beendete immerhin den Krieg zwischen ihnen.
Vielleicht schien Margaret ja deshalb auf ihrem Sterbebett so verblüfft über die Frage ihrer Mutter, warum sie sie nie in ihr Atelier eingeladen habe – sie hatte gedacht, das sei jetzt alles geklärt. Die ganze Familie wartete mucksmäuschenstill auf ihre Antwort, die schließlich etwas
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