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Glückliche Ehe

Glückliche Ehe

Titel: Glückliche Ehe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klett-Cotta Verlag
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versiegten ihre Tränen schon wieder. Sie braucht die Fassade, um sich stark zu fühlen, schloss er, ließ sie in Ruhe und wandte sich Leonard zu. Dem alten Mann standen Tränen in den Augen, aber er wischte sie nicht weg. So feierlich, als leistete er einen Schwur, sagte er: »Wir werden tun, was Margaret will. Brauchst du irgendwelche Hilfe bei den organisatorischen Dingen?« Enrique schüttelte den Kopf. »Sicher?«, fragte der Patriarch nach.
    »Sicher«, sagte Enrique und atmete erleichtert aus. Für einen Moment empfand er ein euphorisches Triumphgefühl, aber dann wurde ihm wieder bewusst, welch traurigen Sieg er errungen hatte.
    Margarets Brüder und Schwägerinnen erschienen gegen elf im Pulk und blieben bis zum späten Nachmittag. Auf Margarets Wunsch wurde das Essen vom Second Avenue Deli geliefert, einem berühmten koscheren Restaurant. Ihres bestand in einem Paar Würstchen mit Senf und Sauerkraut und einem quadratischen Kartoffel-Knish. Sie aßen am Esszimmertisch, aber danach war Margaret müde. Sie bat Enrique, den Tropf nach oben zu tragen, lud alle ein, mit ins Schlafzimmer zu kommen, und erfüllte ihre Gastgeberinnenrolle vom Bett aus. Damit war die übliche Formalität cohenscher Familienzusammenkünfte zwar aufgehoben, was den Ort betraf, nicht jedoch in puncto Garderobe. Sie waren allesamt so adrett gekleidet – die Männer in Stoffhosen,Button-down-Hemd und Jackett, Dorothy und die Schwägerinnen im Kleid – wie zu Thanksgiving oder Passah. Doch der Feiertagssmalltalk wich nach und nach emotionalen Kindheitserinnerungen und ausführlichen Würdigungen Margarets als Mutter. Dorothy lobte Margaret nicht direkt. Sie referierte lediglich schmeichelhafte Äußerungen ihrer Freundinnen über Margaret, was absolut unglaubhaft war. Da Margarets Kontakt zu diesen Frauen nie über ein flüchtiges Hallo im Country-Club hinausgegangen war, konnten diese Worte nur von Dorothy selbst stammen.
    Dass Dorothy Margaret noch auf dem Sterbebett nur auf diese indirekte Art zu loben vermochte, enttäuschte und ärgerte Enrique wieder. Er wusste, dass sie nicht absichtlich mit Zuspruch geizte. Er hatte jetzt endlich begriffen, dass sie und Leonard emotional ängstlich und zaghaft waren, aber nicht kalt; ihre verhaltene Art hatte nichts mit mangelnder Liebe zu tun. Trotzdem: Es gab nun mal Momente, in denen man über sich selbst hinauszuwachsen hatte. Enrique wollte sich nicht mit ihrer chronischen Unsicherheit abfinden. Sein Groll wuchs, je weiter der Nachmittag voranschritt. Er konzentrierte seine Enttäuschung auf die Tatsache, dass Dorothy kein einziges Wort über das künstlerische Schaffen ihrer Tochter verlor. Schließlich, nachdem sie stundenlang vor dem großen Bild von Greg und Max über Margarets Bett gesessen hatten, sagte Dorothy: »Das da habe ich noch nie gesehen.«
    Enrique erwartete, dass sie sagte, wie schön das Bild sei, oder zumindest, dass ihre Enkel darauf hübsch aussähen, aber sie wiederholte nur: »Nein, das habe ich noch nie gesehen.«
    »Es gibt viele Bilder von Margaret, die du noch nie gesehen hast«, erwiderte Enrique patzig.
    »Sie hat mich ja nie eingeladen!«, stieß Dorothy so schrill hervor, als hätte er sie mit einer Stecknadel gepiekt, was er ja in gewisser Weise auch getan hatte. »Du hast mich nieeingeladen«, sagte sie vorwurfsvoll zu Margaret. »Ich wollte ja kommen, weißt du noch? Ich habe gesagt, ich würde mir gern deine Sachen ansehen, und dann könnten wir ja irgendwo zu Mittag essen. Es gibt doch so viele Galerien in der Gegend, wo dein Atelierraum ist. Erinnerst du dich, Margs? Ich habe gesagt, ich möchte kommen und deine Bilder sehen und mit dir essen gehen, und dann könntest du mir doch diese neuen Galerien zeigen. Aber du hast mich nie eingeladen«, wiederholte Dorothy, als wäre sie ein vernachlässigtes kleines Mädchen und Margaret die Mutter, die nie für sie da war. Dorothy stand auf den Fußballen, hochaufgerichtet wie ein wachsamer Vogel. Ihre eine Hand ruhte auf dem Ohrensessel, in dem ihr Mann zusammengesunken saß und traurig auf seine entkräftete Tochter starrte. Dorothys männliche Nachkommenschaft saß auf Klappstühlen am Fußende des Betts. Beide Söhne waren auf dem Höhepunkt ihrer beruflichen Laufbahn, wohlhabende, angesehene Männer um die fünfzig. Sie hielten das Kinn reuig gesenkt, als wären sie mitangeklagt für Margarets Verbrechen, ihrer Mutter keinen Einlass in ihre Welt gewährt zu haben. Margaret starrte Dorothy an, verblüfft

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