Glückliche Ehe
oft gewünscht hatte, woanders zu sein. Doch sie konnte noch so erschöpft sein, noch so verzweifelt darüber, wen sie sich da als Objekt ihrer Liebe ausgesucht hatte – selbst dann schaffte er es, sie in ein Gespräch zu verwickeln. Er hatte es immer geschafft.
13 DER GROSSE VERFÜHRER
E nrique erzählte Margaret alles von sich. Den Satz »Er schüttete ihr sein Herz aus« hatte er bei Stendhal, bei Dickens, Balzac, Lermontow und, vermutlich sarkastisch, in den Romanen von Philip Roth gelesen. Es schien jedoch nicht sein Herz zu sein, das sich da ausschüttete. Er entleerte seine Seele oder sein Ich oder was immer ihn an seine Einzigartigkeit glauben ließ. Er offenbarte all seine Gefühle und Geheimnisse oder glaubte es zumindest, und er erzählte jede einzelne Anekdote aus seinem einundzwanzigjährigen Leben.
In jener langen Nacht des 30. Dezember 1975, während Stunde für Stunde verging, bis der Morgen kam, hing jenseits der Fensterwand hinter Margarets hübschem Kopf dichte Dunkelheit, stellenweise durchbrochen vom trüben, bernsteinfarbenen Licht der New Yorker Straßenlaternen. Hier drinnen aber leuchtete eine jener neuen Halogen-Stehlampen, von denen auch Enrique eine besaß. Margaret kam gar nicht auf die Idee, sie um der Romantik willen zu dimmen. Es gab keine brennenden Kerzen und keinen Wein, der allem etwas sanftere Konturen verliehen hätte. Sie saßen in unerbittlich fröhlichem Licht: Helles Licht, das von den überwiegend kahlen weißen Wänden zurückgeworfen wurde, lag in Margarets blauen Augen und in ihrer klarenStimme. Sie tauschten ihre Lebensgeschichten aus wie Studenten, die zusammen für eine Prüfung büffelten: leerten eine Kanne Kaffee und rauchten jeder eine halbe Packung Zigaretten. Er war starr vor Anspannung, hellwach wie ein Raubtier und zugleich auf der Hut, als wäre er selbst die Beute. Er war nicht deshalb nervös, weil er dieser aufmerksamen jungen Frau mit den bodenlosen, staunenden Augen sein Innenleben bloßlegte; er fürchtete sich vielmehr vor dem Gedanken, dass er, wenn er nichts mehr zu sagen hatte, den nächsten Schritt tun und mit ihr ins Bett gehen müsste. Ja nicht nur mit ihr ins Bett gehen. Er würde dieses Wesen, das ihm mit jedem Augenblick schöner und klüger erschien, sexuell befriedigen müssen; sie mochte ja ein Menschenweibchen sein, aber sie gehörte offensichtlich einer so viel höheren Ordnung Mensch an, dass es doch für eine so prächtige Mutation eine andere Benennung geben musste.
Enrique hatte noch nicht viel Zeit gehabt, sich darüber klarzuwerden, was er nun eigentlich über Margaret wusste. Gelegenheit dazu bekam er, als er sich kurz nach vier Uhr morgens entschuldigte, um auf die Toilette zu gehen. Das Bad war selbst für New Yorker Verhältnisse winzig. Zwischen Badewanne, Waschbecken und Klo, alles auf kaum mehr als schrankgroßem Raum zusammengedrängt, war gerade mal ein halber Meter Platz. An der einzig freien Wand – die übrigen wurden von Spiegel, Wanne und Tür eingenommen – hing ein abstraktes kleines Gemälde: vier breite, schwarze Pinselstriche auf weißer Leinwand, Bögen oder Buckel, in denen man dahintreibende Wolken oder ein zorniges Katzenquartett sehen konnte. Er betrachtete es, während seine Blase Urin für zehn Mann abzulassen schien, ein albern langer und geräuschvoller Vorgang, und das Kunstwerk sagte ihm nichts, wie ihm abstrakte Gemälde gemeinhin nichts sagten – reflexhaft versuchte er immer, sie zu entschlüsseln, obwohl er wusste, dass die angemessene Herangehensweisedarin bestand, sie zu »fühlen«. Er hoffte, dass dieses nichtssagende Gemälde nicht von Margaret stammte, obwohl er sich fast sicher war. So ohne Rahmen und mit den zwei völlig unbemalten Stellen auf der Leinwand sah es wie das Werk eines Anfängers aus. Er war überrascht, dass sie es überhaupt irgendwo aufgehängt hatte.
Seine Exfreundin Sylvie war Malerin – angeblich. Enrique hatte da seine Zweifel. Sie schien keinerlei Vision zu haben, was sie in ihrer Kunst erreichen wollte, und auch gar kein Bedürfnis, eine zu entwickeln. Sie nahm irgendwelche Bürojobs an, um sich nach sechs Monaten feuern zu lassen und dann Arbeitslosengeld zu beziehen, das in der Rezession der Siebzigerjahre fast ein Jahr lang gezahlt wurde. Bei dieser ganzen Freiheit, sich ihrer Kunst zu widmen, brachte sie wenig zustande. In den dreieinhalb Jahren ihres Zusammenlebens hatte Enrique anderthalb Romane geschrieben, während Sylvie keine zehn Bilder malte, die
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