Glückliche Ehe
meistens unvollendet blieben. In Enriques Augen war sie einfach faul. Und nachdem er die paar Menschenskizzen gesehen hatte, die sie gemacht hatte, hegte er den Verdacht, dass sie deshalb lieber abstrakt malte, weil sie korrekte Proportionen nicht beherrschte, und nicht, weil sie das Gegenständliche künstlerisch überwunden hatte. Was für ein verrücktes Pech hatte ihn wieder mit einer sogenannten abstrakten Expressionistin zusammengeführt? Er versuchte sich damit zu trösten, dass es Margaret mit dem Malen nicht ernst sein konnte, sonst hätte sie ihm doch längst davon erzählt.
Um zehn nach vier in der Nacht ihres dritten Zusammentreffens und ihres ersten Dates wusste Enrique nur wenig über Margarets wahre Ziele im Leben. Anfangs hatte er Bernard so verstanden, dass Margaret als Freelancerin für Zeitschriften arbeitete. Er hatte fälschlicherweise unterstellt, dass sie wie Bernard redigierte oder recherchierte, dann aber während ihrer Unterhaltung an jenem ersten Abend inseinem Apartment erfahren, dass sie Grafikerin war. Seine Bemerkung »Du bist Künstlerin?« hatte sie abgewehrt: »Ich mache Layout und suche Bilder aus. Kann man nicht gerade Kunst nennen. Auch wenn es Artdirektion heißt.« Dabei hatte sie ihm zugezwinkert, als verriete sie ihm ein unanständiges Geheimnis.
Beim Challah French Toast hatte sie etwas von einem Fotokurs erzählt. Enrique hatte während des Waisendinners flüchtig zwei gerahmte Schwarzweißfotos an der Wand über ihrem Sofa wahrgenommen, hatte es aber versäumt, sie genauer zu betrachten. Im Buffalo Roadhouse hatte Margaret erwähnt, dass sie Schauspielunterricht nehme. Doch auf seine Frage, ob sie Schauspielerin werden wolle, hatte sie abgewinkt: Das sei nichts Ernsthaftes, sie habe weder das Talent noch den Mut dazu. Außerdem hatte sie erzählt, dass sie mit ihrer Freundin Lily Stepptanz lerne und demnächst einen Lithographiekurs anfangen werde. Auf dem Weg zu ihrem Apartment hatte sie gesagt, ihre Mutter wolle nicht, dass ihr kleiner Bruder Larry Künstler würde, und Enriques Frage, ob sie denn Künstlerin sein dürfe, hatte sie wieder verneint. Während er seine Hose wieder zumachte, sagte er sich, dass das mediokre Bild im Bad das Ergebnis eines ihrer Hobbys sein musste.
Wie jemand nicht genau wissen konnte, was er im Leben wollte, war Enrique ein Rätsel, obwohl es unter seinen Altersgenossen eher den Normalzustand darstellte. Er selbst hatte alle Brücken, die ihn vom Schreiben wegführen könnten, hinter sich abgebrochen, so dass er gar nicht aufgeben konnte, so schwierig es auch werden mochte. Er wusste, wenn er eine Hintertür offen ließ, würde er eines Tages fliehen, und dann würde sein großes Roman-Œuvre à la Zola oder Balzac – zwanzig Bände mit kunstvoll miteinander verbundenen Charakteren, die Riesenstadt New York literarisch überhöht, bewohnt von männlichen und weiblichenSabases, ein grandioser Bilderbogen inklusive hellsichtiger Porträts, die die Stärken und Narrheiten seiner Zeitgenossen veranschaulichten –, dann würde dieses Werk nie geschrieben werden. Er verstand nicht, wie jemand, der so intelligent, clever und kreativ war wie Margaret, leben konnte, ohne etwas Großes im Leben erreichen zu wollen. Aber andererseits schien sie ihm sowieso einer anderen Spezies anzugehören. Gerade deshalb war ja die Aussicht, sie zu berühren, himmlisch und beängstigend zugleich. Aber wäre sie ein Mann gewesen, hätte Enrique, obwohl er für sich in Anspruch nahm, kein Sexist zu sein, für ihren Mangel an Ehrgeiz nur Verachtung übrig gehabt.
Während Margaret ihrerseits ins Bad ging, sah er sich die beiden Fotos über dem Sofa an. Er war davon ausgegangen, dass sie von ihr stammten, aber bei näherer Betrachtung erschien ihm das unwahrscheinlich. Das erste zeigte zwei Männer, der eine älter, der andere in den Zwanzigern, auf dem Kopfsteinpflaster einer Straße sitzend, über den Beinen ein großes Fischernetz, das sie vermutlich flickten. Seltsamerweise hatten sie Lederjacken an, und der junge Mann trug elegante Schuhe. Ihre Gesichter waren offen und entspannt dem Fotografen zugewandt, als wäre er ein alter Freund. Das andere Bild zeigte drei kleine Kinder, die mitten auf einer Dorfstraße standen. Wie auch die Fischer, sahen sie europäisch aus, ebenso die niedrigen, schiefen Häuser im Hintergrund und das holprige Kopfsteinpflaster. Die Kinder waren gleichzeitig fröhlich und ernst. Eines lächelte, das andere blickte sehnsüchtig in die
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