Glückliche Ehe
über ihren Vorwurf. Ihre Augen wirkten in dem abgezehrten Gesicht noch größer, und ihr Körper war schmaler denn je, die Haut fast so durchscheinend wie die Plastikschläuche, die zu den Ports in ihrer Brust führten. Eine ganze Weile sagte niemand etwas.
In diesem Moment wurde Enrique schlagartig bewusst, wie seltsam diese Mutter-Tochter-Beziehung war. Dorothy wartete auf eine Erklärung ihrer Tochter – in einem Gespräch, das, wie jeder wusste, eins der letzten zwischen ihnen sein würde. Dorothy hielt auf Diskretion, und das hier war eine höchst intime Angelegenheit, und trotzdem sprach sie die Frage in einem Raum voller Leute an, Familie hin oder her. Fürchtete sie, dass Margaret ohne Publikum etwas Verletzendes sagen würde? Sicher, Margaret hatte ihreMutter während ihrer Krankheit auf Abstand gehalten, aber jeder in der Familie, Dorothy selbst wohl eingeschlossen, war dafür dankbar gewesen. Die Qual der Mutter, nichts gegen das tun zu können, was ihrem Kind widerfuhr, hätte es für alle Beteiligten nur noch schlimmer gemacht. Margaret wusste um den dominierenden Wesenszug ihrer Mutter: Sie musste Kontrolle haben, um sich sicher zu fühlen, und Krankheit ließ sich nun einmal nicht kontrollieren.
Aber warum hatte Margaret Dorothy auf Distanz gehalten, als sie noch gesund gewesen war? Enrique dachte, dass dies die Frage war, die Dorothy beantwortet haben wollte. Vor zehn Jahren hatte sie sich bitter beklagt, dass sie und Margaret nicht so ein enges Verhältnis hatten wie ihre Freundinnen und deren Töchter, und sie war sogar so weit gegangen, Margaret vorzuwerfen, sie habe »keinen Familiensinn«. Margaret, im Vergleich zu ihren Freundinnen eine gute Tochter, war gekränkt und wütend gewesen. »Meine Mutter ist doch diejenige, die nicht imstande ist, meine Freundin zu sein«, hatte sie sich bei Enrique beklagt. Enrique fand, sie habe recht, aber er glaubte nicht, dass Dorothy ein freundschaftliches Verhältnis zu ihrer Tochter wollte. Seiner Meinung nach war sie gekränkt, weil Margaret sie nicht mehr um Rat fragte.
Einst war Margaret der Rat ihrer Mutter willkommen gewesen. Als Gregory und Max klein gewesen waren, hatte sie Dorothy in allen möglichen Kindererziehungsfragen konsultiert. Und im zehnten Jahr ihrer Ehe, als sie in ihrer größten finanziellen Krise steckten, hatte Margaret ihre Mutter offen um Hilfe gebeten. Sie hatte kurz zuvor ihren Job aufgegeben, um sich ganz ihren Söhnen zu widmen. Gleichzeitig war Enriques Karriere, die sie ohnehin kaum in den schwarzen Zahlen hielt, derart ins Stocken geraten, dass er ein Jahr fast keine Einkünfte hatte. Damals hatte Dorothy ihnen mehr gegeben als nur Geld. Sie half Margaret, eine neue Nanny zufinden, nachdem ihre bisherige bei einem Autounfall verletzt worden war. Sie bestärkte Margaret darin, nicht wieder zu arbeiten – im Gegensatz zu allen aus Margarets und Enriques Freundeskreis, die fanden, sie müsse es tun, um Enrique den Druck zu nehmen. Dorothy verkündete beharrlich, dass Enrique dieses »Problem« – ihre Bezeichnung für seine Unfähigkeit, mit seinen Romanen genügend Geld zu verdienen, um seine Familie zu ernähren – mit ihrer finanziellen Unterstützung schon überwinden werde. »Er ist ein kreativer Mensch«, erklärte sie. »Bei kreativen Menschen geht es mit dem Einkommen nun mal auf und ab. Und außerdem verstehen sie nichts von Geld«, setzte sie hinzu, was Enrique erboste, aber nebensächlich war. Dorothy sah ja, dass er sich bemühte, Geld zu verdienen. Sie warf ihm nicht vor, dass er Schwierigkeiten damit hatte. Ihre Tochter hatte sich für ihn entschieden, also waren die Cohens mit im Boot, in guten wie in schlechten Tagen. Mit Zuwendung und Leonards Geld half Dorothy aus, als Margarets und Enriques hoffnungsloses Unterfangen, das traditionelle Kleinfamilienmodell der Fünfzigerjahre wiederzubeleben, fast scheiterte, bis Margaret schließlich haben konnte, was sie wirklich wollte – die Möglichkeit, sich um ihre Kinder zu kümmern, und gleichzeitig den Luxus einer Ganztagshilfe.
Sobald Margaret erst einmal zugegeben hatte, dass sie Hilfe brauchten, half Dorothy: Sie bewahrte sie davor, die Jungen in einem kleinen Zimmer zusammenpferchen zu müssen, sie bewahrte sie vor der Undenkbarkeit, die Jungen auf eine staatliche Schule zu schicken, und vor sonstigen Katastrophen, die gehobene junge New Yorker ereilen konnten. Aber mit diesen Erfolgen begnügte sich Dorothy nicht. Sie wollte Margarets gesamte
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