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Glückliche Ehe

Glückliche Ehe

Titel: Glückliche Ehe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klett-Cotta Verlag
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Innenleben seiner Figuren hineinzukriechen. Die Arbeit war das Wichtigste und Komplizierteste im Leben der meisten Menschen, es störte ihn, über Figuren zu schreiben, ohne genau zu wissen, was sie bei ihrer täglichen Arbeit taten. Er wünschte, er wäre so neugierig und abenteuerlustig wie Margaret. Er war zwar überzeugt, dass seine zielstrebige, utilitaristische Herangehensweise an seine Karriere ihren planlosen Erkundungen überlegen war, erkannte aber dennoch, dass sie wohl mit größerer Wahrscheinlichkeit von den Details erfuhr, die er brauchte, um seinen Figuren Leben zu verleihen.
    Margaret schien sich über sein Eingeständnis, er sei neidisch, zu freuen. Sie griff sich mit der rechten Hand ins Haar und brachte ein paar Strähnen über ihrem perfekten Ohr in Form. »Ach, mir wird einfach schnell langweilig, und ich probiere gern was Neues aus«, sagte sie. »Es ist albern. Ich bin nicht so diszipliniert wie du. Oder mein Bruder. Ich finde es unglaublich, dass du drei Romane geschrieben hast. Wie machst du das?«
    »Indem ich stundenlang allein in einem Zimmer sitze«, antwortete er, und das war die simple Wahrheit. Er wandte sich halb um und zeigte auf die Fotos. »Die hast wirklich du gemacht?« Sie nickte und sah ein wenig reumütig aus. »Sie sind phantastisch«, sagte er. »Ich dachte, das wären teure Drucke von irgendeinem ganz berühmten Fotografen, und es war mir peinlich, dass ich nicht wusste, von wem. Wirklich, sie sind spitze. Absolut erstklassig.« Er hielt inne, weil er sah, dass seine aufrichtigen Komplimente eine Stelle tief in ihrem Inneren berührten, zu der er bis dahin nicht vorgedrungen war.
    »Ach …«, brachte sie heraus und mehr nicht. Zum allerersten Mal wirkte sie aufgelöst. Das schlagfertige Mädchen, die coole, flirtende, taxierende Frau, die plauderte oder mitfühlend zuhörte, die Abenteurerin, die resignierte Tochter, die wütende Schwester, die mütterliche Schwester – er hatte viele ihrer Schattierungen gesehen, aber jetzt lächelte sie nur selig, die Wangen leicht gerötet, und geriet ins Stammeln. Der Effekt war so atemberaubend, dass er unwillkürlich dachte: Wenn das mein Penis ausrichten könnte, ich wäre ein glücklicher Mann.
    Er tröstete sich mit dem, was ihn Sylvie mit Hilfe von Unser Körper, unser Leben gelehrt hatte – dass er mit seinem Mund dasselbe Resultat herbeiführen konnte –, aber selbst ein Grünschnabel wie Enrique erkannte, dass seine ehrliche Reaktion auf ihre Fotos Margaret wohl dauerhafter befriedigt hatte, als es sein Körper vermocht hätte, so gut er sich auch anstellte.
    In einer Art Erleuchtung – demselben intuitiven Verstehen, das einsetzen musste, bevor er eine Figur wirklich darstellen konnte – begriff er, dass ihre zornigen Bemerkungen über ihre Mutter, die ihren Bruder nicht Architekt werden lassen wollte, und ihr resignierter Scherz, dass sie selbst tun dürfe, was sie wolle, solange sie nur heirate und zwei Kinder bekomme, auf indirekte Art Margarets wahre Sehnsucht zum Ausdruck gebracht hatten. Sie wollte doch Künstlerin sein, auch wenn sie es noch so entschieden leugnete. Wahrscheinlich sogar eine bedeutende Künstlerin, denn er erahnte da einen viel größeren Ehrgeiz – gerade weil er verborgen war. Sie wollte an ihr Talent glauben und wie Enrique sein, jemand, der Tag für Tag dranbleiben konnte; sie wollte ihr Leben der Vervollkommnung ihrer natürlichen Begabung widmen, bis sie ein Werk erschaffen würde, das sie stolz präsentieren konnte: nicht überm Klo, sondern in den Wohnzimmern dieser Welt. In einem kurzen, euphorischen Moment erkannteer mit tolstoischer Klarheit, was sie einander zu bieten hatten: Ihre in sich ruhende Art und Freude am Leben würden ihn davor bewahren, über seinen Enttäuschungen in Groll zu versinken, der sein Werk vergiften würde, und sein täglicher unerschütterlicher Glaube daran, dass die Kunst Künstler und Publikum über die Schäbigkeit ihres Daseins erhob, würde sie ermutigen, die heimliche Margaret zu werden, die große Künstlerin, die sie vor ihrer pragmatischen Familie und selbst vor ihrem eigenen zaghaften Ich verbergen musste. Sie hatte die Leichtigkeit, die er nie erlangen würde, und er hatte den Willen, den sie nicht durchsetzen konnte.
    Er versuchte, ihr weitere Komplimente über ihre Fotos zu machen, aber sie wechselte das Thema: »Du hast gesagt, dein zweiter Roman hat sich schlecht verkauft und hat ein paar richtig böse Kritiken bekommen. Aber gleich danach hast

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